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Polen: Steinmeier in Warschau: Unter der Last der deutschen Geschichte

Polen

Steinmeier in Warschau: Unter der Last der deutschen Geschichte

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    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto am Platz vor dem Denkmal für die Helden des Ghettos.
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto am Platz vor dem Denkmal für die Helden des Ghettos. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Höher kann die Latte für einen Bundespräsidenten kaum liegen. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt darf Frank-Walter Steinmeier auf dem „Platz der Helden des Warschauer Ghettos“ eine Rede halten. Über ihm ein Zeltdach zum Schutz vor dem Regen, seitlich vor ihm das Mahnmal zum Gedenken an die jüdischen Widerstandskämpfer und die Opfer des deutschen Vernichtungsregimes. Vor 80 Jahren, am 19. April 1943, erhoben sich hier die Menschen im Ghetto gegen den NS-Terror. Wissend, dass sie keine Chance hatten. Denn die Deutschen hatten längst begonnen, die jüdische Bevölkerung Warschaus in Viehzüge zu pferchen und zu deportieren, meist in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka. Den Aufstand walzte die SS nieder, Zehntausende starben. Als Teil des Holocausts, des Völkermordes an Europas Juden.

    Ausgerechnet hier nun will und soll Steinmeier sprechen. Polens Präsident Andrzej Duda hat ihn eingeladen. Israels Staatschef Isaac Herzog ist auch dabei. An jenem Ort, an dem Bundeskanzler Willy Brandt 1970 auf die Knie sank. Weil ihm „am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last Millionen Ermordeter“ die Sprache versagte, wie er im Nachhinein erklärte. Eine wortlose Bitte um eine Vergebung, um die sich eigentlich gar nicht bitten lässt. Das weiß auch Steinmeier, der seine Stimme deshalb zuerst den Opfern leiht. Auf Jiddisch zitiert er das Vermächtnis der Malerin Gela Szeksztajn, bevor sie mit ihrer Tochter nach Treblinka abtransportiert wurde: „Lebt wohl, Freunde. Lebe wohl, jüdisches Volk. Lasst nie wieder eine solche Katastrophe zu.“ 

    Frank-Walter Steinmeier: „Es ist schwer, heute hier zu Ihnen zu sprechen“

    „Es ist schwer, heute hier zu Ihnen zu sprechen“, sagt Steinmeier vor einigen der letzten Holocaust-Überlebenden, vor Vertretern aus Politik, Religion und Zivilgesellschaft. Die Aufgabe dieser Rede und mehr noch die Geschichte selbst lasten sichtbar auf Steinmeier. Niemand kann in den Bundespräsidenten hineinschauen. Aber wer ihn da reden sieht, mit der leuchtend gelben Narzisse am Revers, dem Symbol des Ghetto-Gedenkens, während vor ihm die ewigen Flammen lodern, der nimmt es diesem Mann schon ab, wenn er sagt: „Hier und heute mit Ihnen zu gedenken, bedeutet mir unendlich viel.“ 

    Eine Frau platziert eine gelbe Narzisse am Umschlagplatz-Denkmal während einer inoffiziellen Veranstaltung zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto.
    Eine Frau platziert eine gelbe Narzisse am Umschlagplatz-Denkmal während einer inoffiziellen Veranstaltung zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto. Foto: Michal Dyjuk, dpa

    Steinmeier belässt es nicht dabei, in „tiefer Scham“ an die Mordtaten zu erinnern, die Deutsche im Namen Deutschlands verübt haben, und sich „in tiefer Trauer vor den Toten zu verneigen“. Er beschwört das „Wunderwerk der Versöhnung“. An Herzog und Duda gewandt, erklärt er: „Viele Menschen in Ihren Ländern, in Polen und Israel, haben uns Deutschen trotz dieser Verbrechen, trotz des Menschheitsverbrechens der Shoah Versöhnung geschenkt. Welch unendlich kostbares Geschenk!“ Aber auch mit dem Dank ist nicht alles gesagt. Es gelte, die Verantwortung für die Zukunft anzunehmen, mahnt Steinmeier. „Die wichtigste Lehre aus unserer Geschichte lautet: Nie wieder! Nie wieder Rassenwahn, nie wieder entfesselter Nationalismus, nie wieder ein barbarischer Angriffskrieg. Nie wieder – darauf gründet unser gemeinsames Europa.“

    Steinmeiers Haltung gegenüber Moskau ist in Polen nicht vergessen

    Das zielt auf Wladimir Putin, den Steinmeier offen beim Namen nennt. Russlands Präsident habe die Werte von Freiheit und Demokratie verhöhnt. Er habe „das Völkerrecht gebrochen, Grenzen infrage gestellt, Landraub begangen“. Putins Krieg bringe den Menschen in der Ukraine „unermessliches Leid, Gewalt, Zerstörung, Tod“. In Polen und Israel zweifelt wohl niemand daran, dass es sich so verhält. Und doch ist offenkundig, dass Steinmeier einen schmalen Grat beschreitet, wenn er in einer Gedenkrede an die Opfer der historischen deutschen Menschheitsverbrechen über die Opfer der gegenwärtigen russischen Aggression spricht. Wenn er behauptet, dass „wir Deutsche unserer Verantwortung für die Verteidigung von Frieden und Freiheit gerecht werden“.

    Ist das noch Ausdruck jener „Demut“, die der Bundespräsident für sich selbst in Anspruch nimmt? Der 96-jährige Holocaust-Überlebende Marian Turski mahnt: „Erinnern wir uns stets daran, dass niemand ungestraft gleichgültig sein kann, weil er sonst seelisch verkrüppelt.“ Turski bezieht das auf den Holocaust damals und den Krieg in der Ukraine heute. Niemand dürfe dazu schweigen. Das tut Steinmeier auch nicht. Aber in Polen ist nicht vergessen, dass er sich als Außenminister stets für ein gutes Verhältnis zu Moskau starkgemacht hat, die Nord-Stream-Pipelines verteidigt hat. Er war nicht gleichgültig gegenüber Mahnungen aus Warschau und Kiew. Aber er war aus polnischer Sicht eben doch zu unaufmerksam.

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