Einmal, es war im Urlaub, da hat sich ihr Mann für die zwei Portionen Eis keine Rechnung geben lassen. Den meisten Menschen würde das nicht mal bewusst auffallen, so wie man sich nicht an jedes einzelne Händewaschen oder Zusperren der Haustür erinnert. Doch Christiane Gillert kann sich noch genau an die Situation erinnern. Sie ist eine Frau, die auf die immer gleiche Abschlussfrage an der Supermarktkasse – „Kassenzettel?“ – nur die Antwort „Ja!“ gelten lässt. Denn in ihrem Einfamilienhaus im hessischen Echzell, einer 5000-Einwohner-Gemeinde knapp 50 Kilometer nördlich von Frankfurt, hütet sie im Schatten der Banken-Wolkenkratzer, in denen es um Milliarden geht, einen Schatz, bei dem jeder Cent zählt.
Dieser Schatz befindet sich im Gästezimmer des Hauses. Gillert zeigt auf eine Schrankwand voller Ordner, die so prall gefüllt sind, dass die oben eingehefteten Seiten eingerissene Löcher haben. Rund 100.000 einzelne Einträge umfasst die Sammlung – oder genauer gesagt, die Datenbank. Denn Gillert führt seit 1982 Haushaltsbuch. Datum, Lebensmittel, Marke, Preis – und sogar der Name des Supermarkts, alles in sauberer Handschrift aufgelistet, alles analog. Schnell hat man den Eindruck: Ja, es macht Gillert wirklich Spaß. „Das ist wie Tagebuch lesen“, sagt sie, während sie ihre Einträge überfliegt und bei manchen gleich noch die passende Anekdote anfügt. Ihr Archiv, wie sie es selbst nennt, umfasst Daten, die nicht einmal das Statistische Bundesamt in dieser Form bereithält. Wer erfahren will, was die Inflation für den eigenen Geldbeutel bedeutet, sollte Christiane Gillerts Aufzeichnungen ansehen. Sie ist überzeugt: Man kann sogar in heutigen Zeiten sparen.
Inflation: Neben Lebensmittelpreisen steigen auch Löhne und Renten
Mit dem Sparen kennen sich die Deutschen aus. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts betrug die Sparquote in der Bundesrepublik im ersten Halbjahr 2024 11,1 Prozent. Das heißt, dass private Haushalte pro 100 Euro verfügbarem Einkommen 11,10 Euro zur Seite legen. Die Quote ist damit deutlich höher als in anderen Ländern wie Italien oder den USA. Als Hauptgrund dafür gilt die Verunsicherung der Menschen. Eine Wirtschaftskrise und steigende Arbeitslosigkeit lösen in vielen den Reflex aus, Geld anzusparen. Ein Blick in die Lohnentwicklung der vergangenen Jahre zeigt aber: Die Gehälter sind – sowohl brutto als auch netto – kräftig gestiegen, 2023 alleine um mehr als acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass die Nettoreallöhne um gerade einmal zwei Prozent angestiegen sind. Die durchschnittliche Inflation von knapp sechs Prozent hat also einen Großteil der Lohnsteigerungen wieder aufgezehrt.

Bei der Rente sieht es ganz ähnlich aus: Die Anpassungen der vergangenen Jahre lagen weitestgehend auf dem Inflationsniveau. Seit 2014 ist der Rentenwert um etwa 40 Prozent gestiegen. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit. Vier von zehn Rentnerinnen und Rentnern haben weniger als 1250 Euro netto, zeigte eine Berechnung des Statistischen Bundesamts vor einem Jahr. Viele sind im Alter – gerade wenn zeitgleich die allgemeinen Lebenskosten steigen – von Armut bedroht. Auch wenn Rentnerinnen und Rentner ihre gesetzlichen Bezüge häufig durch weitere Einkünfte aufstocken. So wie Rentnerin Christiane Gillert.
Vor allem Molkereiprodukte sind deutlich teurer geworden
Sie arbeitet tageweise in ihrem alten Job im Steuerbüro – nicht aus Geldsorgen, sondern vielmehr aus einer Begeisterung für Zahlen heraus. Die Preissteigerungen der vergangenen Jahre sind Gillert natürlich nicht entgangen. „Derselbe Einkauf, für den ich früher 50 Euro bezahlt habe, kostet jetzt 62 Euro“, sagt sie. Vor allem Molkereiprodukte hätten preislich angezogen. Trotzdem reichen dem Ehepaar Gillert 1000 Euro im Monat für Lebensmittel, Kleidung, Tanken und sonstige Alltagsausgaben. Mietkosten, die zu Beginn ihrer Haushaltsbuchführung auch noch bezahlt wurden, fallen mittlerweile nicht mehr an. Das monatliche Budget haben Gillerts seit Jahrzehnten nicht erhöht – das macht Christiane Gillert ebenso stolz wie der Umstand, dass in all den Jahren am Monatsende immer ein Plus stand. Was übrig ist, wird nicht ausgegeben, sondern aufs Konto zurückgeführt.
Gefühlslage der Nation
Wahlen werden inzwischen mehr denn je auf den letzten Metern entschieden, und oft sind es nicht Programme, die den Ausschlag geben, sondern Stimmungen und Emotionen. Deshalb haben wir uns entschieden, in unserer Wahlserie Gefühle in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht um Mut, Überforderung, Glück, Hoffnung und Angst, die Menschen hinter diesen Gefühlen und um Politik. Alle Teile der Serie sammeln wir auf einer Übersichtsseite, auf der Sie jeden Tag bis zur Wahl am 23. Februar eine neue Folge finden.
Kritische Nachfragen, wie das Budget gleich bleiben kann, wenn gleichzeitig die Lebensmittelpreise explodieren, kennt Christiane Gillert schon – und listet die Tipps auf, wie sonst ihre Einkäufe. Wenn möglich, zahlt die Rentnerin bar. „Wenn sie immer nur die Karte oder das Handy hinhalten – so verschulden sich die Menschen.“ Gillert geht nie ohne Zettel einkaufen. Gekocht wird in der Regel, was im Angebot ist, „es sei denn, mein Mann hat einen besonderen Wunsch“. Die Hessin schwört außerdem auf Bevorratung: Wenn unverderbliche Lebensmittel wie Nudeln im Angebot sind, werden gleich Monatsrationen gekauft. Was Gillert gar nicht nutzt, selbst wenn es Rabatte gibt: Kundenkarten. „Da geht es nur um Werbung, das mach ich nicht.“

„Wir tauschen nichts, was nicht kaputt ist“: So spart Familie Gillert trotz Inflation
Gillert hält kurz inne. Hinter ihr ist eine dunkle Holzwand zu sehen, an der zahlreiche Bilder hängen. Die Einrichtung ist funktional, bescheiden und hat einen 80er-Jahre-Flair. „Wir tauschen nichts, was nicht kaputt ist“, sagt Gillert nach einer kurzen Pause. Gönnt sich das Ehepaar denn auch mal etwas? Und dann erzählt sie von den feuchtfröhlichen Festen, die auch mal in der hauseigenen Sauna enden; von Kneipenbesuchen; von den Reisen, die Gillerts jedes Jahr mindestens sechs Wochen machen – bezahlt aus einem anderen Geldtopf versteht sich. Eine ganz persönliche Leidenschaft habe Christiane Gillert auch noch, ergänzt sie und traut sich erst gar nicht, sie zu verraten. Sie liebe Dirndl. 109 Stück umfasst ihre Sammlung. Einen Großteil davon bewahrt sie im Schlafzimmerschrank auf. Pro Jahr kauft sie zwei neue Dirndl. Mit der Haushaltsbuchführung sei das schon vereinbar.
„Ich bin ein Unikum und vielleicht ein bisschen strange.“
Christiane Gillert
„Ich bin ein Unikum und vielleicht ein bisschen strange“, sagt Gillert und muss lachen. Aber sie sei einfach Buchhalterin mit Herzblut. Dass sie Kassenwartin von Kirchenchor, Damenclub und Gospelchor ist: selbsterklärend. Die innere Motivation hinter ihrer akribischen Buchführung ist „absolute Kontrolle“, wie sie bestimmt und knapp zugibt. Wenn ein Zettel oder Beleg fehlt, dann belaste sie das. So wie damals, im Urlaub, als ihr Mann sich keine Rechnung geben ließ für die zwei Portionen Eis. Mittlerweile, sagt sie mit einem Augenzwinkern, hat sie ihm verziehen.
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