Es gibt Dinge, die stehen irgendwann an – und doch kommt einem das in diesem Moment so unwirklich vor. Irgendwann muss eben ein neuer Papst oder Bundeskanzler gewählt, eine treue Familienkutsche entsorgt oder ein Sportstar in die Rente geschickt werden. Aber Thomas Müller und die Bayern – das soll an diesem Samstag wirklich zu Ende sein? Tatsächlich steht für diesen Müller, diese Personifikation des FC Bayern München, nun der finale Akt an: Das letzte Heimspiel der Münchner gegen Borussia Mönchengladbach wird auch der letzte Auftritt des 35-Jährigen vor den eigenen Fans sein. Ein letztes Mal Meisterschale erhalten, wahrscheinlich eine finale Auswechslung vor der Südkurve, dann war es das mit dem Abschied dahoam. In den 17 Jahren, die Müller als Profi beim FC Bayern verbracht hat, wurde viel geredet – von Müller, aber auch über ihn. Grund genug, in Zitaten auf seine Karriere zu blicken.

„Müller spielt immer.“
Louis van Gaal, August 2009
Dass er einen Hang dazu hat, Konflikten aus dem Weg zu gehen – das kann man nun wahrlich nicht über Louis van Gaal sagen. Etwas überraschend war es aber schon, dass sich der durchaus selbstbewusste Niederländer kurz nach seinem Amtsantritt in München auf Müller als Stammspieler festlegte. Konkurrenz im Luxus-Kader der Bayern gab es auch damals – erst recht für einen damals 19-Jährigen. Und es war keineswegs so, dass der Weg Müllers beim FC Bayern vorgezeichnet schien. Van Gaals Vorgänger Jürgen Klinsmann, unter dem Müller in der Vorsaison ab und an randurfte, hatte für einen Wechsel schon grünes Licht gegeben. Hoffenheim war interessiert, der FC Augsburg mit Manager Andreas Rettig ebenso – doch intern machte Amateurcoach Hermann Gerland Rabatz und wehrte sich gegen einen Müller-Transfer. Es sollte sich auszahlen. Denn van Gaal erkannte die Qualitäten des Schlacks sofort: „Thomas sorgte für Ausgeglichenheit im Team und hatte zudem ein Gespür fürs Tor. Er war ein hart arbeitender, guter Mittelfeldspieler, aber auch ein zweiter Stürmer, der Tore schoss – und dann wird sich das Blatt immer zugunsten von Thomas‘ Team wenden.“ Das Diktum „Müller spielt immer“ wurde in München zur Regel, die bei Nicht-Einhaltung zum Problem für Trainer wurde. Niko Kovac etwa sagte über seinen Stürmer, dieser bekomme „mit Sicherheit auch seine Minuten, wenn Not am Mann sein sollte“. Ein Müller nur als Mann für spezielle Minuten? Frechheit. Am Ende ging Kovac, Hansi Flick kam und Müller spielte wieder. Erst kürzlich beteuerte der heutige BVB-Coach Kovac, da einen Fehler gemacht zu haben: „Aus heutiger Sicht hätte Thomas damals sehr viel mehr spielen müssen.“ Erst viel später wurde der Van-Gaal-Satz abgewandelt zu „Müller spielt immer... seltener“.

„Er ist durchschnittlich schnell. Seine Technik: Durchschnitt. Sein Dribbling ist Durchschnitt. Aber er ist Thomas Müller.“
Karl-Heinz Rummenigge, April 2025
Es könnte ja schon ein Gag sein, dass Thomas Müller eben Thomas Müller heißt – wie der Durchschnittsdeutsche, von denen es über 50.000 in der Bundesrepublik gibt. Müller – also der Bayern-Spieler – gilt als der Normalo im Blingbling-Geschäft Profifußball. Wenn Mitspieler mit weißen Felljacken im Gegenwert eines Kleinwagens zur Nationalmannschaft reisten, kam Müller gerne mal mit Jeansjacke. Die Frisur? Wird nicht alle zwei Wochen nachgezogen und ist frei von Strähnchen, Löckchen und sonstigem Kram. So durchschnittlich wie der Name sind eigentlich auch die Fähigkeiten, die Müller anzubieten hat. Einem Müller-Treffer geht kein Dribbling durch fünf Verteidiger zuvor, es resultiert nicht aus einem Gewaltschuss oder einem Hackentrick. In aller Regel wird mit einem handelsüblichen Schuss mit dem Innenrist abgeschlossen. Dazu Müller selbst: „Ich weiß, dass jedes Tor gleich viel zählt, nämlich immer eins. Ich weiß auch, wenn man nur die schönen Tore nähme, hätte ich nicht so viele auf dem Konto.“ Die große Qualität hat Müller einst selbst so bezeichnet und sich als „Raumdeuter“ bezeichnet. Bedeutet: Müller kann Situationen erahnen, die erst noch entstehen. Müller sprintet los, wenn der Gegenspieler noch aufs Tor schießt, weil er auf den Abpraller hofft. In der Jugend, so erzählte einst ein Trainer seines Heimatvereins in Pähl nahe des Ammersees, sei Müller damit aufgefallen, dass er mit Absicht die Knie seiner Gegenspieler anschoss und oft erfolgreich auf die Abpraller hoffte. Anders formuliert: Müllers fußballerisches Portfolio scheint durchschnittlich zu sein – die Umsetzung desselben ist Weltklasse.
„Des interessiert mi ois net, der Scheißdreck. Weltmeister samma. Den Pott hamma. Den scheiß goldenen Schuh kannst dir hinter die Ohren schmier’n.“
Thomas Müller, Juli 2014
Natürlich gibt es keine dummen Fragen. Nur interessante und besondere. Etwa die einer kolumbianischen Reporterin nach dem gewonnenen WM-Finale 2014. Die Frau wollte wissen, ob es Müller denn störe, nicht wie bei der Weltmeisterschaft zuvor in Südafrika den Titel des Torschützenkönigs geholt zu haben. Dafür hätte es besagten goldenen Schuh gegeben. Der ging damals an den Kolumbianer James Rodriguez. Ein verschmerzbarer Verlust, wie Müller angesichts des gewonnenen WM-Pokals der verdutzten Reporterin im bairischen Idiom mitteilte. Der goldene Pokal war natürlich so viel mehr als das: Für die Generation Lahm und Schweinsteiger, die jahrelang nur zweite und dritte Plätze eingeheimst hatte, war es die ultimative Bestätigung – und für viele auch die letzte Chance, etwas zu gewinnen. Lahm trat direkt nach dem Erfolg in Rio zurück, Schweinsteiger folgte zwei Jahre später nach der EM in Frankreich. Eine wichtige Rolle nahm dabei besagter Müller ein, der bei seiner zweiten WM ebenfalls fünfmal traf. Die Tirade seines Mitspielers übersetzte Schweinsteiger für die kolumbianische Reporterin wie folgt: „Er hat gesagt, du siehst gut aus. Und er ist glücklich, den Titel gewonnen zu haben.“ Doppelpass spielen, so einfach und wichtig zugleich.
„Thomas Müller ist ein Connector. Er kann mit den Rappern in der Mannschaft, aber auch mit denen, die jodeln.“
Julian Nagelsmann, Mai 2024
Bei der Vorstellung des Kaders für die Heim-EM 2024 nahm sich Bundestrainer Julian Nagelsmann etwas Zeit, um die Gründe für die Nominierung jedes Spielers zu erläutern. Bei Thomas Müller, der zu diesem Zeitpunkt mit 34 Jahren einer der Senioren im Team war, fiel diese Begründung etwas ausführlicher aus. Der Bayern-Spieler sei nicht nur auf dem Platz wichtig, weil er auch bei einer Einwechslung nicht viel Zeit brauche, um auf Betriebstemperatur zu kommen, sondern weil er zwischen den verschiedenen Charakteren in der Mannschaft vermitteln kann. Neben Familienvätern wie Joshua Kimmich (klar erkennbar Jodler nach der Nagelsmann‘schen Lehre) gibt es nun mal den in Berlin-Neukölln aufgewachsenen Antonio Rüdiger, den Nagelsmann recht zweifellos zu den Rappern zählt. Müller käme eben mit allen zurecht – auch wenn manchmal mit den Augen gerollt wird, wenn wieder mal ein Müller-Spruch fällt. Humor ist ja irgendwie auch Glückssache. Müller als Dolmetscher innerhalb des Kaders – das ist ein Umstand, der allgemein immer mit als „wichtig fürs Teamgefüge“ abgekürzt und für chronische Ersatzspieler verwendet wird, bei der Kommunikationszentrale Müller aber durchaus den Kern getroffen zu haben scheint. „Radio Müller“ ist, das war vor allem in den leeren Stadien zur Corona-Zeit zu hören, immer auf Sendung. Ein volles Turnier mit Müller – kann also auch anstrengend werden, wie Bastian Schweinsteiger einst verriet: „Wenn du fünf Wochen mit Thomas bei einer WM warst, reichen drei Wochen Urlaub hinterher nicht aus, um sich zu erholen.“

„Thomas Müller ist ein Stück FC Bayern München. Das ist seine Heimat, der Klub ist sein Klub.“
Jupp Heynckes, Februar 2018
Generell geht es beim FC Bayern natürlich darum, jedes Spiel, jeden Titel zu gewinnen. Das alleine reicht aber nicht aus: Der Klub versteht sich als Wertegemeinschaft, als Vermittler bajuwarischer Selbstverständlichkeit in allen Bereichen. Die Spieler sind in dieser Aufgabenstellung nicht nur Garanten für Tore und Titel, sondern auch Botschafter. Und wer wäre dafür besser geeignet als ein Bub vom Ammersee, der schon als Kind in der Bettwäsche des FC Bayern schlief? Eben. Müller war nicht nur Stürmer, sondern auch Außenminister, Gaudibursch, Aushängeschild. Sogar jene, die es nicht mit den Bayern halten, kommen nicht umhin, dem Müller-Charme zu erliegen. Ob es jemals wieder so einen wie Müller geben wird? Das ist mehr als fraglich. Der Müller-Abgang zum Saisonende wirft aber die Frage auf, wer künftig das Gesicht der Bayern sein soll. Manuel Neuer, der schon lange keine verletzungsfreie Saison mehr hatte, ist 39. Joshua Kimmich ist 30, bei Leon Goretzka ist bereits die nähere Zukunft fraglich. Wer ist denn künftig der „Mia san mia“-Botschafter? Dem Vernehmen nach soll sich Müller direkt nach dem Aus in der Champions League gegen Inter Mailand die beiden gebürtigen Münchner Aleksandar Pavlovic und Josip Stanisic auf dem Spielfeld geschnappt und ihnen gesagt haben: „Jetzt kommt eure Zeit.“
„Nächstes Jahr werde ich ein Ticket brauchen.“
Thomas Müller, April 2025
Was genau am Samstagabend, nach dem letzten Müller-Heimspiel, geplant ist – darüber wollte FC Bayern-Präsident Herbert Hainer unter der Woche nicht allzu sehr ins Detail gehen. „Es wird sicherlich ein emotionaler Moment werden, aber lassen Sie sich mal überraschen.“ Für Müller wird nach 17 Jahren als Profi die Selbstverständlichkeit enden, als Spieler ins Stadion zu gehen, weswegen ein Ticket vonnöten sein wird. Dass Müller dem Verein in einer Funktion erhalten bleiben wird, gilt als ausgemacht – die Frage ist nur, ob er nochmals ein fußballerisches Abenteuer, etwa beim FCB-Partner-Klub in Los Angeles, wagt oder doch nach der Klub-WM im Sommer seine Karriere beendet. Ein Abschiedsspiel wird es für den Rekordspieler auf jeden Fall geben. Und eine Sache zum Samstagabend ließ sich Vorstandschef Jan-Christian Dreesen noch entlocken: „Ich bin sicher, dass Thomas zu den Fans sprechen möchte und die richtigen Worte finden wird.“ Ein Müller-Abschied ohne Worte des Dauer-Kommunikators – das wäre auch etwas untypisch.
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