Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Meinung: Wir brauchen nicht „mehr“, sondern „weniger“ Europa

Meinung

Wir brauchen nicht „mehr“, sondern „weniger“ Europa

    • |
    Wie geht es mit der EU weiter nach dem Brexit?
    Wie geht es mit der EU weiter nach dem Brexit? Foto: Federico Gambarini/Archiv (dpa)

    Die britische Regierung spielt auf Zeit und will den Austrittsantrag erst im Herbst einreichen; die Europäische Union dringt auf eine zügige Aufnahme der Gespräche über den Scheidungsvertrag. Das Tauziehen um den Vollzug des „Brexit“ bietet einen Vorgeschmack auf die zähen und kraftraubenden Verhandlungen, die das krisengebeutelte Europa jahrelang beschäftigen und von noch Wichtigerem ablenken werden.

    Wobei es auch im Interesse Europas liegt, nach der Trennung zu einem guten Miteinander zu finden. Großbritannien bleibt ja ein unentbehrlicher Handelspartner und Verbündeter. Ein bisschen von jener Geduld, die man den Griechen gewährt, haben die Briten und ihre in Konfusion gestürzte Regierung verdient. Allerdings muss schon heute klar sein, dass der Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht zum Nulltarif zu haben ist. Großbritannien hat der EU den Rücken gekehrt.

    Wenn das Land auch künftig teilhaben will an den Vorteilen des gemeinsamen Marktes, muss es die Bedingungen – und dazu gehört die Niederlassungsfreiheit von EU-Bürgern – akzeptieren. So sind die Regeln. Gewährt die EU hier Rabatt, käme dies einer Einladung an andere Staaten gleich, dem britischen Beispiel zu folgen.

    Schuld am Brexit ist die Regulierungswut der EU

    Viel bedeutsamer als das Vorgeplänkel der Unterhändler ist die Antwort auf die Frage, wie es nach dieser historischen Entscheidung des britischen Volkes mit Europa weitergehen soll. Alle Versuche, den „Brexit“ als (korrigierbaren) Betriebsunfall und als Irrtum einer von Populisten verführten, ungenügend aufgeklärten Mehrheit darzustellen, lenken vom Kern des Problems ab und lassen den Respekt für ein demokratisches Votum vermissen.

    Der Austritt Großbritanniens ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die seit langem im Gange und von einem enormen Vertrauensverlust in die Institutionen Europas geprägt ist. Vieles spielt da mit hinein: der Ärger über die Regulierungswut, die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU in existenziellen Fragen wie dem Schutz der Außengrenze, gebrochene Verträge, die ewige Eurokrise, das Defizit an demokratischer Kontrolle, das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Die große Mehrheit der Europäer kennt und schätzt die Errungenschaften der Union, die Frieden und Wohlstand beschert hat. Aber die Völker wollen, zugespitzt gesagt, nicht von EU-Kommissaren regiert werden und die nationale Vielfalt gewahrt wissen.

    Die Führung der EU hat die Botschaft nicht verstanden

    Viel wäre schon gewonnen, wenn die politischen Eliten dieses Unbehagen endlich ernst nehmen und die Probleme, die wirklich nur gemeinsam zu lösen sind, entschlossener anpacken würden. Ein Patentrezept zur Rettung des Einigungsprozesses gibt es nicht. Es bedarf vieler kleiner, vertrauensbildender Maßnahmen – und des Versuchs, die Europäer aufs Neue von der europäischen Idee zu überzeugen. Die komplizierte Gemengelage in einem so großen, auch von natürlichen Interessengegensätzen geprägten Staatenbund erlaubt keine Reformen über Nacht. Für den Moment kommt es darauf an, den Laden zusammenzuhalten und den Bürgern zu signalisieren, dass die Botschaft angekommen ist.

    Bei einem Großteil des Führungspersonals scheint das leider nicht der Fall zu sein. Kommissionschef Juncker will die Eurozone ausweiten, Parlamentspräsident Schulz fordert eine „wahre europäische Regierung“, SPD-Chef Gabriel ruft nach einer „Wirtschaftsunion“ und riesigen Investitionsprogrammen: Sie alle wollen „mehr“ Europa, obwohl die Lektion des Brexit „weniger“ Europa lautet. Wer ausgerechnet jetzt einer „Vertiefung“ der EU mitsamt einer weiteren Machtverlagerung nach Brüssel das Wort redet, der hat wirklich nicht verstanden.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden