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Kommentar: Sächsische Sicherheitsbehörden geben verheerendes Bild ab

Kommentar

Sächsische Sicherheitsbehörden geben verheerendes Bild ab

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    Der unter Terrorverdacht festgenommene Dschaber al-Bakr war im Leipziger Gefängnis in seiner Zelle erhängt aufgefunden worden.
    Der unter Terrorverdacht festgenommene Dschaber al-Bakr war im Leipziger Gefängnis in seiner Zelle erhängt aufgefunden worden. Foto: Sebastian Willnow, dpa

    An Fragen herrscht kein Mangel. Sehr wohl hingegen an Antworten. Warum war der syrische Terrorverdächtige Dschaber al-Bakr noch in Leipzig in Gewahrsam, obwohl der Generalbundesanwalt in Karlsruhe längst das Verfahren an sich gezogen hatte, ohne dass der Beschuldigte unverzüglich nach Bruchsal oder Stammheim gebracht wurde? Warum war bei seiner Einlieferung in der U-Haft kein Dolmetscher anwesend, obwohl er nur sehr schlecht deutsch sprach? Warum wurde eine akute Suizidgefahr ausgeschlossen, obwohl der Häftling die Aufnahme von Essen und Trinken verweigerte, die Lampe in seiner Zelle zertrümmerte und die Steckdose manipulierte? Und warum wurde trotz dieser Vorkommnisse das Intervall seiner Überwachung von 15 auf 30 Minuten verlängert?

    Dschaber al-Bakr: Fragen richten sich an die Justiz

    Die Fragen richten sich an die sächsische Justiz mit Justizminister Sebastian Gemkow an der Spitze. Und bislang sind seine Antworten noch reichlich dürftig. In Berlin herrschen Fassungslosigkeit und Entsetzen über die Vorgänge im Freistaat, erfahrene Kriminologen werfen den sächsischen Behörden vor, „blauäugig“ gewesen zu sein. Denn der 22-jährige Syrer war kein harmloser Taschendieb, sondern ein radikalisierter und zu allem entschlossener Islamist und Anhänger der Terrormilizen IS, der nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz kurz davorstand, einen Anschlag auf einen Berliner Flughafen zu verüben – mit verheerenden Folgen. Dutzende, möglicherweise hunderte unschuldige Menschen wären dabei ums Leben gekommen oder schwer verletzt worden. Alles spricht dafür, dass al-Bakr sich dabei selbst in die Luft sprengen und als Märtyrer sterben wollte. Wer so etwas plant, hat mit seinem Leben längst abgeschlossen.

    Innerhalb weniger Tage geben die sächsischen Sicherheitsbehörden im Fall al-Bakr ein verheerendes Bild ab. Erst ging der Polizei in Chemnitz der Terrorverdächtige durch die Lappen, obwohl die Beamten bereits in seiner Wohnung waren. Nun fehlte es auch der Justiz an der nötigen Sensibilität für die extreme Entschlossenheit des Inhaftierten. Eine Komplett-Überwachung fand nicht statt, die Zeit zwischen den Kontrollgängen reichte ihm aus, um seinem Leben ein Ende zu setzen.

    Selbstmord des Islamisten: Gegen einen Toten wird nicht weiter ermittelt

    Dschaber al-Bakr ist tot. Mit seinem Selbstmord entzieht er sich einer Aufklärung seiner geplanten Tat. Gegen einen Toten wird nicht weiter ermittelt. Dabei gäbe es noch immer reichlich Fragen. Wie und vor allem warum radikalisierte sich der Syrer, der bereits im Februar 2015 nach Deutschland kam, als Flüchtling anerkannt wurde und eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung erhielt? Wie kam er in Kontakt zu den Kämpfern der Terrormiliz IS? Und wie konnte es geschehen, dass er von Deutschland aus zwei Mal in die Türkei flog und sich auch einige Zeit in der syrischen Stadt Idlib aufhielt, obwohl dafür eigentlich ein Visum nötig wäre? War al-Bakr Teil einer noch aktiven Terrorzelle?

    Der Fall Dschaber al-Bakr: Eine Chronologie

    19. Februar 2015: Der Syrer reist nach Deutschland ein, wird in München registriert und zur Erstaufnahme in Chemnitz weitergeleitet.

    10. März: al-Bakr zieht nach Eilenburg in Nordsachsen.

    9. Juni: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt dem direkt am 19. Februar gestellten Asylantrag von al-Bakr statt. Der Syrer erhält einen auf drei Jahre befristeten Aufenthaltstitel.

    September 2016: Der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz werden auf den 22-Jährigen aufmerksam. Der Syrer recherchiert im Internet über die Herstellung von Sprengsätzen und beschafft - vermutlich mit einem Komplizen - die Grundstoffe dafür.

    6. Oktober: Das Bundesamt für Verfassungsschutz macht Al-Bakr als Schlüsselfigur eines geplanten Anschlages der Terrororganisation Islamischer Staat in Deutschland aus. Er soll sich gegen Züge oder Berliner Flughäfen richten. al-Bakr wird rund um die Uhr observiert.

    7. Oktober: Der Syrer will Heißkleber kaufen, für die Ermittler das Signal, dass er eine Bombe fertigstellen will. Der Verfassungsschutz benachrichtigt die Polizei in Chemnitz.

    8. Oktober: Die Polizei versucht, al-Bakr in der Wohnung eines Bekannten festzunehmen, doch er kann flüchten. Die Beamten stellen dort Sprengstoff sicher. Der Mieter der Wohnung wird als mutmaßlicher Mittäter festgenommen.

    9./10. Oktober: Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe zieht die Ermittlungen an sich. Die Polizei fahndet weiter bundesweit nach al-Bakr, der bis Leipzig kommt. Ein Syrer nimmt ihn auf, erkennt ihn aber und holt Freunde. Gemeinsam überwältigen sie al-Bakr und übergeben ihn der Polizei.

    10. Oktober: Ein Gericht erlässt Haftbefehl wegen Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. 

    12. Oktober: Der Syrer wird erhängt in seiner Zelle in der Leipziger Justizvollzugsanstalt gefunden. Bundesinnenminister Thomas de Maizière fordert rasche und umfassende Aufklärung.

    13. Oktober: Nach dem Suizid des terrorverdächtigen Syrers Dschaber al-Bakr in einem Leipziger Gefängnis weist das sächsische Justizministerium Vorwürfe zurück, die Selbsttötung hätte verhindert werden können. Nach jetzigem Stand habe man alles getan, um das zu vermeiden. Nach Ansicht des Kriminologen und Polizeiwissenschaftlers Thomas Feltes haben die Sicherheitsbehörden in Sachsen bei der Unterbringung des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr jedoch blauäugig gehandelt

    Insofern wäre es sinnvoll, wenn der Generalbundesanwalt bei den laufenden Ermittlungen gegen den ebenfalls festgenommenen Komplizen al-Bakrs, den 33-jährigen Syrer Khalid A., trotz des Suizids al-Bakrs dessen Handy auswertet und auf mögliche Kontaktpersonen und Mitwisser untersucht. Waren möglicherweise gar die als „Helden von Leipzig“ gefeierten syrischen Landsleute al-Bakrs, die ihn überwältigten und mit einem Kabel fesselten, Komplizen?

    Dschaber al-Bakr hat sein Wissen mit in den Tod genommen. Doch die Bevölkerung hat ein Recht, Antworten auf die zahlreichen offenen Fragen zu bekommen.

    Die Arbeit der Behörden hat gerade erst begonnen.

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