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Lebenspraxis: Wie gelingt es uns, vernünftig zu werden?

Lebenspraxis

Wie gelingt es uns, vernünftig zu werden?

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    Was soll ich tun? Der Philosoph Immanuel Kant hatte da ein paar Anregungen.
    Was soll ich tun? Der Philosoph Immanuel Kant hatte da ein paar Anregungen. Foto: dpa

    In Zeiten so großer Umwälzungen und zukunftsweisender Richtungsentscheidungen könnte Vernunft doch ganz hilfreich sein. Wäre diese Vernunft nur nicht selbst im Laufe des vergangenen Jahrhunderts in Verruf geraten. Denn wer heute von Rationalität spricht, denkt meist nur noch an Kalkulation von Aufwand und Ertrag beim Erreichen eines Zieles. Dass die Geistesleistung des Menschen so einen Beitrag selbst zu unmenschlichster Politik leisten kann, haben nicht zuletzt die Deutschen in ihrer dunkelsten Vergangenheit gezeigt. Und in der wirtschaftlich geprägten Gegenwart ist die Rationalität oft nur noch zu einem Mussinstrument des Verhältnisses von Kosten und Nutzen verkommen – aber eben das beherrschen nicht von ungefähr die Maschinen längst schneller und effektiver. So jedenfalls kann und darf die Vernunft auf dem Weg in die Zukunft keine Maßstäbe setzen.

    Eine Frage der Freiheit

    Aber wie dann? Gibt es denn noch eine andere? Aufklärung tut not. Und zwar im ursprünglichsten Sinn. Denn bei den Aufklärern hat die Vernunft eine entscheidende Rolle in Fragen des Menschseins gespielt. Und dabei Klärung auch in Begriffe gebracht, die in den Konflikten von heute von elementarer Bedeutung sind. Etwa im Verhältnis zwischen moralischer Verantwortung und persönlichem Interesse. Denn es sind die Grundfragen der Freiheit, die im Zeitalter von Digitalisierung und Klimawandel aufs Neue und darum auch aktuell beim Augsburger Friedensfest mit seinem „Freiheits“-Motto im Zentrum stehen.

    Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? So lauteten sie beim Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). Und schließlich: Was ist der Mensch? Seine Antworten können noch heute einen Weg bahnen – gerade auch zu einem wieder wesentlichen Verständnis der Vernunft.

    Der Mensch ist ein Sinnenwesen, und als solches wird er ständig von Reizen affiziert. Was das heißt, erleben wir immer schon als Konsument, aber im Zeitalter der perfektionierten, psychologisierten Marktmechanismen in einer Ausprägung wie nie zuvor. Das Zeitalter des Individualismus ist das Zeitalter, in dem sich der Mensch über die gekauften Produkte identifiziert. Wir haben die freie Auswahl auf freien Märkten. Und dass das nicht zum Kollaps führt, dafür sorgen die Mechanismen eben jener Märkte, weil sie einerseits für Konkurrenz bei den Verkäufern führen und sich damit regulieren und weil sie andererseits den solventen Käufer brauchen und darum die Menschen an den Umsätzen beteiligen müssen. Das jedenfalls lehrte Adam Smith (1723–1790) und nannte dies eine Lenkung durch die „unsichtbare Hand“.

    Steter Wechsel von Reiz und Reaktion

    Nur hat dieses Modell zwei Haken. Der konkrete und aktuelle: Auf den neuen Märkten geht es zunehmend irrational zu, sodass beide Funktionen nicht mehr erfüllt werden – es bilden sich Monopole und die Währung der Daten durchbricht die Rückkopplung der Gewinne. Das generelle Problem aber: Die vermeintlich im Konsum herrschende Freiheit ist gar keine. Es ist vielmehr ein blind voranstürzendes Reiz-Reaktionssystem.

    Und das beginnt schon beim Menschen selbst. Nach Kant nämlich zeigt sich im Konsumenten nur das affizierte Wesen, das aus persönlichen Neigungen entscheidet. Frei und nur damit selbst Ursprung seines Handelns aber ist der Mensch abseits dieser individuellen Interessen. Und dazu befähigt ihn die Vernunft. Denn die Vernunft im aufklärerischen Sinne ermöglicht uns den Blick auf die größeren Zusammenhänge, die Verantwortung, die Moral. Berühmt ist Kants „kategorischer Imperativ“, der in der Grundform lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das heißt also: Freiheit ist das Gegenteil von Willkür – Pflicht statt Neigung. Aber diese Vernunft besitzt der Mensch nicht einfach, sondern er ist lediglich zu ihr befähigt. Darum lautet ein weiterer berühmter Satz: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Aber dabei weiß Kant sehr wohl, dass der Mensch nie vollständig vernünftig handeln kann, weil er ja immer auch Sinnenwesen bleiben wird.

    Aber was kann das nun für heute heißen? Zum einen: Wir werden als Konsumenten immer unfrei bleiben und die moralische Verantwortung, die wir im Einkauf und im Internet tragen, nie ganz zu schultern in der Lage sein. Die entscheidende Frage ist vielmehr: Finden wir auf einer anderen Ebene den Hebel, die Vernunft in Kraft zu setzen? Gegenüber Märkten, die die Gesellschaften zersetzen, gegenüber einer Warenwelt, die die Umwelt ausplündert – gegenüber vermeintlichen Freiheiten also, die sich gegen die eigentliche Freiheit zu wenden beginnt? Auf welcher Ebene kann der Mensch sich für Maximen entscheiden und sie zugleich als allgemeines Gesetz bejahen?

    Vernunft muss Sache der Politik sein

    Diese Vernunft ist Sache des Bürgers, des Wählers, muss Sache der Politik sein. Und darum gibt es zwei Zeit-Erscheinungen, die gerade in diesem eigentlichen Sinn der Vernunft schaden. Es ist eine politische Landschaft, die sich selbst nur nach dem Funktionieren ausrichtet, die den Wettkampf zwischen Maximen und Haltungen scheut, vor Moral zurückschreckt. Sie mutet dem Bürger die Freiheit nicht zu und nimmt sie sich dadurch selbst. Und es ist in der Gegenrichtung der Mensch, der im Zeitalter des Individualismus auch von der Politik nur das passende Angebot auf seine eigenen Neigungen und Interessen fordert. Der als Konsument auf Staat und Gesellschaft blickt und nicht als Bürger. Er entzieht sich selbst der moralischen Frage und fordert von den Regierenden keine Freiheit zur Verantwortung. Es ist die beidseitige Gefahr der Unmündigkeit.

    Doch zur Erlangung dieser Mündigkeit gehört in der multimedial durchdrungenen Gesellschaft eben auch die verantwortungsbewusste Vermittlung. Wenn Kants erste, für alles weitere essenzielle Frage lautet: Was kann ich wissen? Dann ist das allzu oft aber nicht mehr das Prinzip, nach dem Nachrichten ausgewählt und aufgenommen werden. Auch hier hat sich in Zeiten des Internets stärker als je zuvor das Reiz-Reaktion-Schema durchgesetzt. Es geht um Vorlieben, Neigungen, Konsum. Um Aufwand und Ertrag, um Kosten und Nutzen in ihrer umfassenden Messbarkeit. Aufklärung ist etwas anderes. Und dabei wäre sie in Zeiten so großer Umwälzungen und zukunftsweisender Richtungsentscheidungen von besonderer Bedeutung. Denn wir sind nur zur Vernunft befähigt – vernünftig sind wir dadurch noch lange nicht.

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