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Brexit-Analyse: Ist das Handelsabkommen mit der EU ein Sieg für Boris Johnson?

Brexit-Analyse

Ist das Handelsabkommen mit der EU ein Sieg für Boris Johnson?

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    Daumen hoch: Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, jubelt nach der erzielten Einigung in den Brexit-Verhandlungen.
    Daumen hoch: Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, jubelt nach der erzielten Einigung in den Brexit-Verhandlungen. Foto: Pippa Fowles, dpa

    Die frohe Botschaft – nämlich, dass sich die EU und Großbritannien auf ein Handelsabkommen geeinigt haben – verkündeten die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson  – wie passend – an Heiligabend nach einem Tag voller Spekulationen, Nervosität und Ungeduld. Es herrschte bei beiden spürbar große Erleichterung angesichts des glücklichen Ausgangs dieses Krimis. Natürlich war es der Fisch, der die Verhandlungen zunächst weiter in die Länge zog – und die feierliche Bekanntgabe eines Deals vom späten Mittwochabend auf Heiligabend verzögerte.

    Die Teams aus Brüssel und London gingen tatsächlich in der letzten entscheidenden Nacht noch eine Liste mit mehr als hundert Fischspezies durch, zählten am Donnerstag stundenlang Makrelen, während Beobachter auf den Durchbruch warteten. Welche Menge dürfen Fischer aus Großbritannien und der EU von welcher Art wann und wo fangen? Nun endlich hat man sich auch bei dem wirtschaftlich zwar unbedeutenden, aber emotional aufgeladenen Thema geeinigt.

    Mit dem Brexit-Handelsabkommen endet die Ungewissheit für die Wirtschaft

    "Die Uhr tickt nicht mehr", sagte Michel Barnier (inks, Chefunterhändler der Europäischen Union für den Brexit.
    "Die Uhr tickt nicht mehr", sagte Michel Barnier (inks, Chefunterhändler der Europäischen Union für den Brexit. Foto: John Thys, Pool AFP, AP, dpa

    Das historische Abkommen steht, in allerletzter Minute ausgehandelt. „Merry Brexmas!“, frohlockte der britische Boulevard. Tatsächlich kam die weitere Verzögerung wenig überraschend in dieser unendlich scheinenden Brexit-Saga, in der das politische Instrument der Deadlines regelrecht ad absurdum geführt wurde. Man mag es kaum glauben, viereinhalb Jahre nach dem Referendum und 296 Tage nach dem offiziellen Start der Gespräche hat das nun ein Ende. „Die Uhr tickt nicht mehr“, sagte Brüssels Chefunterhändler Michel Barnier.

    Während Unternehmer und Landwirte seit Monaten über die Ungewissheit verzweifelten und sich jetzt, eine Woche vor Ablauf der Übergangsfrist am 31. Dezember, an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen, kommt der Zeitpunkt vor allem Premierminister Boris Johnson gelegen. Nicht nur, dass er dem von Corona-Beschränkungen, Brexit-Dramen, leergeräumten Supermärkten und englischem Winterwetter deprimierten Volk eine positive Nachricht überbringen konnte. Die Brexit-Hardliner in den eigenen konservativen Reihen haben jetzt auch kaum noch Zeit, das Kleingedruckte des Vertrags durchzugehen und diesen in der Luft zu zerreißen.

    Das gilt als so unausweichlich wie der nächste Skandal im britischen Königshaus. Der radikale europaskeptische Tory-Flügel wäre lediglich zufrieden, wenn alle Bande mit der EU gekappt und im Königreich künftig die Regeln der Welthandelsorganisation greifen würden. Dazu kommt es nun glücklicherweise nicht.

    Für das Handelsabkommen haben die EU und Großbritannien Kompromisse gemacht

    Handelt es sich also um einen Triumph für Johnson, wie seine Anhänger tönen? Noch bevor der weiße Rauch aufstieg, verbreitete Downing Street bereits via Hintergrund-Briefings den Dreh, man habe die EU niedergerungen und gehe aus dem Kampf als Gewinner hervor. Oder verfolgen die Briten hier mit den lächerlichen Muskelspielen eine Tragödie und müssen sich auf eine Katastrophe im neuen Jahr gefasst machen – dann, wenn die brutale Realität des Brexit die ideologisch geprägten Märchengeschichten von einer goldenen Zukunft ersetzen dürfte.

    Tatsächlich ist es weder Triumph noch Tragödie. Natürlich beanspruchen beide Seiten mit großem Getöse den Sieg für sich. Natürlich betonen beide ihre Erfolge, um das Abkommen vor dem jeweiligen Heimatpublikum verkaufen zu können. Und natürlich darf man bewundern, dass entgegen aller Prognosen in nur wenigen Monaten ein Paket geschnürt wurde. Die Wahrheit aber ist, dass eine Einigung lediglich zustande kam, weil die Partner Kompromisse, in einigen Bereichen sehr schmerzhafte und einschneidende, eingegangen sind.

    Weder der Verweis auf die berühmte Souveränität, die das Königreich angeblich zurückgewonnen hat, noch jener auf Erfolge bei der Fischerei werden unter anderem die jetzt schon verlorenen Arbeitsplätze und den bürokratischen Aufwand, der künftig beim Importieren wie Exportieren anfällt, wettmachen können. Irgendwann mag der EU-Austritt Vorteile bringen, wer weiß. Und man sollte den Briten nur das Beste zum Abschied wünschen. Kurz- und mittelfristig aber werden die Beeinträchtigungen, Umwälzungen und Schäden für das Königreich massiv ausfallen. Immerhin sieht die politische wie wirtschaftliche Beziehung zwischen dem Kontinent und Großbritannien ab 2021 fundamental anders aus, obwohl es keine Zölle geben wird.

    Dass das britische Parlament das Handelsabkommen ablehnt, gilt als ausgeschlossen

    Das Abkommen ist dennoch äußerst dünn. Der Vorteil der Einigung ist aber, dass nicht alles Glas zerschlagen, nicht alles Vertrauen zerstört ist und die Unternehmen nun endlich wissen, worauf sie sich einzustellen haben. Das war längst überfällig.

    Gleichwohl darf man es als absurd bezeichnen, dass das britische Parlament, das sich in den vergangenen vier Jahren über jedes noch so kleine Detail im Brexit-Prozess fast zerfleischt hat, in den nächsten Tagen ein rund 2000 Seiten langes Dokument ratifizieren wird, das die Abgeordneten nicht oder nur zu einem kleinen Teil geprüft haben. Das offenbart den Wahnsinn, der den Namen Brexit trägt.

    Jahrelang haben sich die Abgeordneten im britischen Unterhaus über jeden Punkt beim Brexit gestritten - das Handelsabkommen winken sie durch.
    Jahrelang haben sich die Abgeordneten im britischen Unterhaus über jeden Punkt beim Brexit gestritten - das Handelsabkommen winken sie durch. Foto: Jessica Taylor, AP, dpa

    Dass die Parlamentarier die Vorlage ablehnen, ist ausgeschlossen, auch weil die Opposition plant, für den Deal zu stimmen. Labour unterstützt damit den Brexit-Obercheerleader Boris Johnson – ein Schritt, der sich irgendwann rächen wird. Denn von einem fantastischen Deal mit Großbritanniens wichtigstem Handelspartner, wie er den Menschen über Jahre versprochen wurde, sind wir weit entfernt. Mit der Einigung wurde das Minimalziel erreicht, sie ist besser als kein Abkommen. Das aber war es auch schon.

    Die Ansprüche sind leider seit dem Referendum 2016, nach all den zermürbenden Streitereien in Westminster und der spürbaren Entzweiung der Gesellschaft so gesunken, dass man zum Abschluss des Jahres 2020 schon froh über dieses Ergebnis ist. Der Premierminister, schwer gebeutelt von der Corona-Pandemie, wird sich als Held feiern lassen wollen, wieder einmal. Die Frage ist, wie lange es dauert, bis der Brexit endgültig seine zerstörerische Kraft entfaltet – und ob Boris Johnson dann zur Verantwortung gezogen wird.

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