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Gaming Disorder: Experte zu Video-Games: "Spielsucht wird zunehmen"

Gaming Disorder

Experte zu Video-Games: "Spielsucht wird zunehmen"

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    Mit Kopfhörer in einer eigenen Welt, das typische und an sich nicht problematische Bild des Gamers.
    Mit Kopfhörer in einer eigenen Welt, das typische und an sich nicht problematische Bild des Gamers. Foto: Eldarnurkovic, Adobe.stock (Symbolbild)

    Sie erforschen als Psychologe Video-Spiele und das Verhalten der Spieler. Daddeln Sie selbst denn auch ab und zu?

    Prof. Christian Montag: Meine Historie geht zurück auf den C64, an dem ich als Kind und Jugendlicher eine Zeit lang sehr gern gespielt habe, vor allem Jump-and-Run-Spiele wie "Giana Sisters", "Hard’n’Heavy" … Mittlerweile ist das aber eher ein Forschungsinteresse, als dass ich selbst noch großartig spiele. Ich habe zwar tatsächlich auch eine X-Box zu Hause, um mir auch die neusten Spiele mal selber anzuschauen. Aber das dann eben aus der Perspektive des Wissenschaftlers, der sich für das Spieldesign interessiert, um auch zu verstehen, warum bestimmte Spiele Erfolg haben oder nicht. Aber die Zeit zum Zocken ist einfach auch nicht mehr da.

    Wenn Sie selbst mal begeistert waren, sind Sie keiner, der dem Gaming grundsätzlich kritisch gegenübersteht.

    Montag: Das ist richtig. Aus wissenschaftlicher Sicht gehen die folgenden einfachen Gleichungen auch nicht auf: Computerspiele sind alle böse, Ego-Shooter führen generell zu Aggressionen, viel Spielzeit führt als alleiniger Faktor zu Abhängigkeit … Das sind alles sehr komplexe Phänomene. Wie bei den meisten digitalen Kanälen, mit denen wir jetzt zu tun haben, ist viel mehr entscheidend: Auf welche Art und Weise nutzten wir Technologien? Und in welchem Kontext findet das statt? Oftmals werden in Debatten Effektstärken total überschätzt, etwa zum Zusammenhang zwischen dem Spielen von Gewalt-Games und tatsächlichem aggressiven Verhalten. Wenn ein solcher Zusammenhang in großen untersuchten Stichproben überhaupt besteht, dann nur in schwacher Form. Neuere aussagekräftige Studien konnten sogar gar keine Zusammenhänge zwischen dem Spielen von Gewaltspielen und Aggression beobachten. Grundsätzlich gilt es, keine Alltagshandlungen vorschnell zu pathologisieren.

    Professor Christian Montag erforscht unter anderem die Online-Spielsucht in Ulm. Er ist Leiter  der Abteilung Molekulare Psychologie an der Universität
    Professor Christian Montag erforscht unter anderem die Online-Spielsucht in Ulm. Er ist Leiter der Abteilung Molekulare Psychologie an der Universität Foto: Universität Ulm

    Ab wann wird’s denn kritisch?

    Montag: Es gibt seit Mai 2019 Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation, die beschreiben, was man unter der Computerspielsucht versteht, auf Englisch "Gaming Disorder". Dazu gehört: 1. Kontrollverlust über das Spielen; 2. Das Spielen hat Priorität gegenüber anderen Aktivitäten, die zuvor wichtig waren; und 3. Es sind aufgrund des Gaming schon negative Konsequenzen im Alltag zu beobachten, trotzdem wird weitergespielt. Schließlich und für mich am wichtigsten: Die Beeinträchtigungen aufgrund der eigenen Computerspielaktivität sind in dem Alltag des Gamers von bedeutsamer Natur.

    Was heißt das?

    Montag: Der notwendige Schweregrad der Beeinträchtigungen muss gegeben sein, wie etwa dass ein Jugendlicher durch seine Gaming-Aktivität seinen Ausbildungsplatz verdaddelt. Erst wenn all die genannten Symptome gegeben sind und in der Regel über zwölf Monate hinweg beobachten werden, kann man laut WHO von einer "Gaming Disorder" sprechen.

    Und die Spielzeiten?

    Montag: Dazu gibt es keine belastbaren Angaben. Es ist zwar nachvollziehbar, dass eine längere Spieldauer natürlich auch den exzessiven Gamer kennzeichnet, aber per se ist das kein belastbares Kriterium für die Diagnose der Gaming Disorder. Das zeigt auch: In den Debatten um die Bildschirmzeit, die immer in Bezug auf Kinder und Jugendliche sehr groß ist – obwohl Gaming Disorder natürlich auch im Erwachsenenalter auftritt –, sollten weitere Aspekte berücksichtigt werden. Es sollte wieder mehr darauf fokussiert werden, zu beantworten: Was ist eigentlich wichtig, damit Kinder und Jugendliche zu mental gesunden Erwachsenen heranreifen? Und da geht es zunächst um: genügend Aufmerksamkeit durchs Elternhaus, genügend Zeit, um den körperlich betonten Spieltrieb auch draußen auszuleben. Dass negative Emotionen wie Furcht und Angst in der Kindheit möglichst keine Rolle spielen – es braucht Geborgenheit! Gesunde Ernährung und ausreichend Schlaf. Und dass die Kinder auch in der Schule mitkommen. Wenn für diese Rahmenbedingungen gesorgt ist, ergeben sich die "gesunden" Gaming-Zeiten wie von selbst.

    Wenn es aber auf die ausgewogene Struktur des Alltags verlässt: In der Corona-Zeit hat es doch eine deutliche Steigung des Gamings gegeben – ist das dann eine besorgniserregende Entwicklung?

    Montag: Erst mal ist richtig: Die Studie Mediensucht 2020 in Deutschland zeigt, dass Gaming- und Social-Media-Zeiten im ersten Lockdown deutlich zugenommen haben – übrigens nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, auch bei Erwachsenen. Wie stark aber die Fallzahlen der Gaming Disorder durch die Covid-Pandemie nachhaltig steigen, können wir aktuell noch nicht genau sagen. Dass es zu einem Anstieg kommt, davon bin ich aber überzeugt. Gemäß dem Sprichwort "Gelegenheit macht Diebe": Wenn mehr Leute über einen großen Zeitraum hinweg mehr Spielen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine kleine Gruppe davon möglicherweise ein Problemverhalten entwickelt. Was wir aber auch in Bezug auf andere Formen der Sucht feststellen können ist, dass die Covid-Pandemie ein Beschleuniger bereits vorhandener Tendenzen sein kann. Diejenigen, die schon vorher ein Problemverhalten mit dem Gaming gezeigt haben, entwickeln dann im Covid-Zeitalter eher ein noch größeres Problemverhalten.

    Was macht die Sucht aus?

    Montag: Schon vor der Pandemie war zu beobachten, dass einige Gamer Computerspieltätigkeiten nachgehen, um aus der Realität zu flüchten. Eskapismus, also Realitätsflucht, ist eines der Motive, das Computerspielsucht möglicherweise Vorschub leistet. Aus der zunächst einfachen Momentbewältigung wird dann eine Gewöhnung an das Computerspielen und irgendwann ein Problem. Neben solchen Motiven gibt es aber zahlreiche weitere Einflussfaktoren: Beispielsweise kann auch das Elternhaus eine Rolle spielen. In unserer neuesten Studie haben wir das Computerspielverhalten von Eltern und Kinder zusammen untersucht. Wir konnten nachweisen, dass in Haushalten, wo die Eltern viel spielen, auch die Kinder viel spielen – und dass auch die Belastungswerte durch das Gaming in Zusammenhang stehen. Das mag nicht überraschen, aber deutet einmal mehr auf die Wirkmacht der Vorbildfunktion hin – allerdings sei erwähnt, dass unsere Studie keine Kausalität abbilden konnte. Das bekannte Konzept "Lernen am Modell" würde in diesem Kontext bedeuten, dass sich der Griff der Eltern zum Computerspiel oder zum Smartphone in jeder kleinen freien Zeit bei den Kindern fortsetzt und sich überträgt. Auch das kann sich in der Pandemiezeit verstärken.

    Wie groß ist aktuell die Problemgruppe in Deutschland?

    Montag: Computerspielen ist ja längst ein Massenphänomen, ob an PC, Konsole oder Smartphone. Allein "Candy Crush" wurde inzwischen rund drei Milliarden mal heruntergeladen. In Deutschland gamen nach neueren Erhebungen rund 46 Prozent. Es ist nicht mehr nur der nerdige männliche Jugendliche. Was die Gaming Disorder angeht, sind es allerdings immer noch mit deutlichem Abstand zuerst die Jungs, die ein Problemverhalten entwickeln. Nach Ergebnissen älterer Studien, die noch nicht die WHO-Richtlinien berücksichtigten, aber von der Stichprobe her repräsentativ waren, gehen wir davon aus, dass der Anteil der Deutschen, die generell ein Online-Suchtproblem haben, zwischen einem und zwei Prozent liegt.

    Also sprechen wir von über einer Million Menschen.

    Montag: Das könnte in etwa hinkommen. Und nach einer neueren, breit angelegten, allerdings nicht repräsentativen Studie unter deutschsprachigen Gamern, erfüllten etwa drei Prozent der Spielenden das komplette Störungsbild nach der WHO.

    Und es ist absehbar, dass sich das noch ausweitet, oder?

    Montag: Ja, ich gehe davon aus. Ich habe noch ein Forschungslabor in China – in Asien nehmen sie uns einige Trends, was dieses Feld betrifft, vorweg. Da ist das Problem schon deutlich größer. Aber generell muss klar sein: Je mehr wir uns eben in den digitalen Bereichen bewegen, und dahin geht nun mal die Entwicklung, desto mehr steigt eben auch das Problemverhalten hier an.

    Welche Charakteristika machen Spiele denn besonders gefährlich?

    Montag: Das ist für Wissenschaftler sehr schwer zu sagen. Denn die Daten, wie sich einzelne Elemente von Games auf das Nutzungsverhalten auswirken, hat im Wesentlichen nur die Spieleindustrie. Aber ich hoffe, dass auch durch die jetzt offizielle Diagnose der Gaming Disorder der Druck auf die Spieleindustrie steigt, auch in die Prävention zu investieren. In diesem Zusammenhang sollten unabhängige Wissenschaftler die Chance haben, an Daten aus Onlinespielen ranzukommen, um die Frage nach einem "gesunden" Spieldesign besser beantworten zu können. Nehmen wir zum Beispiel besagtes "Candy Crush" auf dem Smartphone: Da sind viele psychologisch wirkungsvolle Elemente verbaut, die darauf abzielen, Spielzeiten zu verlängern oder den Spieler dazu verleiten wollen, zum Geldbeutel zu greifen. Sind die kostenlosen Spielmöglichkeiten ausgespielt und das Level ist immer noch nicht gelöst, entsteht einer Theorie nach eine "Spannung" im Gehirn, die sich erst über das Lösen des Levels reduzieren lässt. Zwanzig Minuten auf ein neues Leben zu warten, wäre jetzt zu lang … – deswegen greift der ein oder andere Spieler dann zum Geldbeutel, um neue Spielmöglichkeiten freizuschalten. Das müsste man alles empirisch und unabhängig untersuchen – aber Sie können sich vorstellen, dass die Computerspiel-Industrie daran kein großes Interesse hat.

    Das ist ja schließlich Ihr Geschäftsmodell, die Kunden an sich zu binden …

    Montag: Es geht um Monetarisierungsmodelle. Ich persönlich habe den Eindruck, dass frühere Monetarisierungsmodelle fairer waren. Dort bezahlte man beispielsweise einmalig einen Preis und konnte das komplette Spiel dann immer mit allen Features spielen. Heute bekommt man "Freemium"-Games zunächst kostenlos, muss dann aber jede zusätzliche Kleinigkeit bezahlen. Diese Spiele zielen ja ganz anders darauf ab, Geld zu verdienen: Indem sie zusätzlich nach unserer Aufmerksamkeit greifen, uns dazu verführen, länger zu spielen … Und das spielt dann auch eine wichtige Rolle im Bereich der Computerspiel-Abhängigkeit.

    Harmlos dagegen wirkt ein anderes Spiel, das gerade boomt: das sehr kommunikative "Among us" …

    Montag: Es ist vielleicht auch ein Auswuchs der Pandemie, dass gerade Spiele mit einer sozialen Facette Konjunktur haben. Wobei: Die Kommunikation mit anderen ist ja in den meisten Spielen inzwischen als wichtiges Spielelement verbaut, längst auch bei Ego-Shootern. Und in der Spielmotivation steht das auch nicht selten im Vordergrund, dass es sich beim Gaming, um ein soziales Event handelt. Das ist sicher der positive Aspekt vieler Spiele, gerade auch jetzt in der Pandemie.

    Was gibt es sonst an Positivem oder Tollem an neueren Games für Sie?

    Montag: Ich persönlich denke, dass sich besonders im Bereich der Open-World-Spiele einiges entwickelt hat. Was einst unter anderem mit "World of Warcraft" angefangen hat – bei dem allerdings auch ein enormes Suchtpotenzial diskutiert wird –, bieten heute Spiele wie "Red Dead Redemption", nämliche große Möglichkeiten für den Spieler sich durch virtuelle Welten zu bewegen und zu interagieren. Aber was als besonders toll empfunden wird, hängt auch von den eigenen Spielmotiven ab: Freude am Wettkampf, Entwickeln von Fähigkeiten, Faszination des Rollenspiels oder auch den ganz schnöden Faktor der Erholung durch das Gaming. Die Frage ist halt, wo jeweilige Schwerpunkte beim Spieler liegen. Dazu führen wir gerade eine riesige weltweite Studie mit bereits über 180.000 Teilnehmern durch, bei der auch jeder nach seiner Selbstauskunft eine Einschätzung erhält, in der seine Motivation im Vergleich zu den anderen ausgewertet ist – und auch Tendenzen zur Gaming Disorder, ohne dass dadurch aber eine Diagnose gestellt werden würde.

    Professor Dr. Christan Montag ist 43 Jahre alt, lebt mit seiner Familie in Köln und ist derzeit auch dort im Homeoffice. Der Psychologe forscht und lehrt an der Universität in Ulm am Institute for Psychology and Education im Zentrum für Biomedizinische Forschung – und ist dabei auch Experte für die sogenannte "Gaming Disorder", auf deutsch als Online-Spielsucht bezeichnet. Neben statistischen Studien untersucht Montag unter anderem die Auswirkungen des Gamings auf das menschliche Gehirn.

    Einen Selbsttest zur Gaming Disorder, den jeder und jede machen kann, gibt es hier. In der Auswertung erhalten alle Teilnehmenden eine unmittelbare Einordnung ihres Spielverhaltens im Vergleich zu anderen.

    Infos zur Smartphone-Nutzung und zum Gaming bei Eltern und Kindern finden Sie hier. Und zu Smartphone-Nutzung, Whats-App und Well-Being: hier.

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