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Interview: Juncker über Merkel: "Sie hat sich nie produziert, sondern gewirkt"

Interview

Juncker über Merkel: "Sie hat sich nie produziert, sondern gewirkt"

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    Nicht immer einer Meinung, aber überzeugte Europäerin und überzeugter Europäer: Angela Merkel und Jean-Claude Juncker haben versucht, die EU zusammenzuhalten.
    Nicht immer einer Meinung, aber überzeugte Europäerin und überzeugter Europäer: Angela Merkel und Jean-Claude Juncker haben versucht, die EU zusammenzuhalten. Foto: Oliver Berg, dpa

    Herr Juncker, US-Präsident Joe Biden hat die Kanzlerschaft Angela Merkels vor einigen Tagen als „historisch“ bezeichnet. War sie das?

    Jean-Claude Juncker: Ich bin mit dem Wort „historisch“ immer vorsichtig. Aber es war eine gute Zeit für Deutschland und infolgedessen auch eine gute Zeit für Europa. Sie hat die deutschen Interessen oft knallhart vertreten – ähnlich wie Helmut Kohl oder Gerhard Schröder. Angela Merkel war aber auch von Anfang an Europäerin. Sie wusste um die Verantwortung, die Deutschland als größtes Land dieser Gemeinschaft für alle hat. Ich habe an ihr stets bewundert, dass sie immer genau Bescheid wusste. Sie hat dieses Detailwissen genutzt – sehr zum Leidwesen derer, die den Sachstand nicht so gut kannten.

    Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit ihr?

    Juncker: Ich erinnere mich sehr genau. Bei unserer ersten Begegnung war sie Jugend- und Familienministerin im Kabinett Kohl. Es ging um ein Treffen der Sozialminister. Sie wusste damals schon genau, was Sache war.

    Hat Merkel auch mal mit der Faust auf den Tisch gehauen?

    Juncker: Nein, sie trat immer bescheiden auf. Mit der Faust auf den Tisch zu hauen oder Sätze zu sagen wie „Deutschland will aber…“ - das war nie ihr Stil. Sie hat sich nie produziert, sondern gewirkt. Und das war ihre Stärke.

    In Deutschland galt sie häufig als jemand, der Probleme aussitzt. In Europa dagegen als tatkräftige Politikerin. Das scheint ein Widerspruch.

    Juncker: Sie ist auch in Deutschland nicht so umstritten, wie es manchmal scheint. In der Nachbetrachtung wird sich das zeigen. Ihr Ruf über Deutschland hinaus zeigt dagegen den Respekt vor ihr. Dort hat man verstanden, dass sie so etwas wie eine „ehrliche europäische Haut“ war. Sie hat europäische Beschlüsse und Entscheidungen immer so dargestellt, als ob es ihre eigenen waren. Das erforderte oft großen Mut. Sie hat sich, auch wenn es mal hart wurde wie bei Donald Trump, nicht hinter den anderen Europäern versteckt.

    Als Merkel 2008 den Karlspreis bekam, hat der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy in einer Laudatio den Satz gesagt: „Ich habe viel von Angela Merkel gelernt.“ War sie ein Vorbild?

    Juncker: Ja, man konnte von ihr viel lernen. Dieses Wissen, diese Detailversessenheit sind eine Stärke. Hinzu kommt, dass Merkel – übrigens im Gegensatz zu Sarkozy – ein großes Talent hat, anderen zuzuhören. Und das gilt für jeden. In meiner Zeit als luxemburgischer Premierminister hatte ich nie das Gefühl, dass sie das, was ich sagte, weniger wichtig nahm, nur weil ich aus dem kleinen Großherzogtum komme. Das konnte man von ihr lernen.

    Als Merkel 2005 Kanzlerin wurde, gab es in Europa viel Euphorie nach der großen Erweiterung im Jahr davor. Dann folgte eine Krise nach der anderen. Heute sind selbst Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht mehr selbstverständlich. Diese Abwärtsspirale konnte auch Merkel nicht aufhalten.

    Juncker: Krisen gehören zur europäischen Geschichte dazu. 1992 gab es die Eurosklerose, da hat niemand an ein weiteres Zusammenwachsen geglaubt. Es stimmt: Heute droht eine neue Gefahr: Wir sind dabei, innere Werte, die zur Substanz der Europäischen Union gehören, zu verlieren. Das war früher nicht vorstellbar. Aber das hat mit Merkel nichts zu tun.

    Hat die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise nicht sehr deutsch und wenig europäisch gehandelt?

    Juncker: Dieser Eindruck ist falsch. Entgegen dem, was oft behauptet wird, hat Merkel die Grenzen nicht geöffnet – weil sie offen waren. Sie hat sie nur nicht geschlossen. Das ist ein eklatanter Unterschied. Es war mit anderen Worten nicht die deutsche Bundeskanzlerin, die den Spaltpilz in die Union getragen hat, sondern diejenigen, die sich an gemeinsame Beschlüsse wie die der Innenminister nicht hielten. Denn die waren ja übereingekommen, die Verteilung der Schutzsuchenden auf alle Mitgliedstaaten nach einer fairen Verteilquote einzuleiten.

    Wie sehen Sie heute Merkels Rolle in der Flüchtlingsfrage?

    Juncker: Da hatte sie ihren großen Moment. Sie hat sich in dieser Frage als Staatsfrau bewährt, weil sie viele Widerstände überwinden musste. In dieser Phase zeigte sich, dass sie keineswegs die emotionslose Frau ist, als die sie oft beschrieben wird. Merkel kümmert sich, wenn es jemandem nicht gut geht. Das sage ich übrigens auch in Erinnerung an einige persönliche Momente, in denen sie sehr menschlich für mich da war. Sie mag nüchtern erscheinen, aber gefühllos ist sie sicher nicht – und humorlos übrigens auch nicht.

    Für seine Küsschen ist Jean-Claude Juncker bekannt. Dieses Bild stammt von Junckers Amtsantritt als EU-Kommissionspräsident im Jahr 2014.
    Für seine Küsschen ist Jean-Claude Juncker bekannt. Dieses Bild stammt von Junckers Amtsantritt als EU-Kommissionspräsident im Jahr 2014. Foto: Olivier Hoslet, dpa (Archivfoto)

    Gibt es für Sie so etwas wie einen Merkel-Moment?

    Juncker: Ja, den gibt es. Sie hat nie zu denen gehört, die den Ausschluss Griechenlands aus der Euro-Zone befürworteten. Das kann man nur mutig nennen. Ich war damals Kommissionspräsident und habe immer den Standpunkt vertreten, dass es entsprechend der europäischen Verträge meine Aufgabe blieb, Griechenland im Euro-Raum zu halten. Dabei wurde ich von Angela Merkel auch gegen Stimmen aus ihrer eigenen Regierung immer unterstützt. Zugleich war die Bundeskanzlerin die treibende Kraft, die Athen dazu brachte, die Reformprogramme zu akzeptieren und umzusetzen.

    In den vergangenen Jahren hatte man dennoch manchmal das Gefühl, dass sie Fehler machte. Kleinere Staaten haben sich gegen deutsch-französische Vorstöße gewehrt, den Widerstand gegen die Pipeline Nord Stream 2 hat sie unterschätzt.

    Juncker: Es gibt eine sehr deutsche Sicht der Dinge, nach der Merkel immer die Fäden in der Hand haben sollte. Nord Stream 2 schien zwar immer umstritten zu sein, aber es gab keine offizielle Beratung im Kreis der Staats- und Regierungschefs. Man wusste zwar, dass es andere Meinungen gab, aber das war es dann auch. Nein, Merkel hat keineswegs an Einfluss in Europa verloren, nur weil sie sich in politisch umstrittenen Fragen festgelegt hat.

    Warum hat Merkel nicht wie Sie ein europäisches Spitzenamt übernommen? Angebote gab es doch offensichtlich genügend.

    Juncker: Diese Frage wurde nicht offen thematisiert. Ich bin allerdings sicher, dass es viele begrüßt hätten, wenn sie nach Europa gekommen wäre. Merkel war eine deutsch-europäische Bundeskanzlerin. Und als solche hat sie lieber Dinge ins Rollen gebracht, anstatt sie als Kommissions- oder Ratspräsidentin umsetzen zu müssen. Sie hat aus sich selbst gewirkt, als die, die sie in dem Moment war. Sie brauchte kein europäisches Spitzenamt, um in der Gemeinschaft etwas zu erreichen.

    Wer könnte diese Rolle Merkels in Europa fortführen?

    Juncker: Es gibt ein großes Erbe, das nach Kohl und Schröder nun auch Merkel hinterlässt: Ein deutscher Bundeskanzler oder eine deutsche Bundeskanzlerin werden immer an Europa als Teil der deutschen Staatsräson festhalten. Merkel hat diese Gewissheit in der Vorstellungswelt der anderen verankert. Das ist ihr Verdienst. Nach ihr kann kein deutscher Regierungschef mehr einen deutschen Sonderweg gehen.

    Welche Herausforderungen kommen auf den nächsten deutschen Bundeskanzler oder die nächste deutsche Bundeskanzlerin zu?

    Juncker: Die Flüchtlingsfrage ist nicht geklärt. Da wird ein deutscher Regierungschef oder eine Regierungschefin den Kurs Merkels fortsetzen müssen. Das betrifft auch die Stabilisierung und Weiterentwicklung der Euro-Zone und der gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das sind zwei wichtige Fragen. Aber ich will noch einen Punkt sagen, der mir bedeutsam erscheint: Ein deutscher Bundeskanzler darf sich nie antieuropäischer Parolen bedienen. Deutschland muss immer die europäische Karte spielen. Denn daran werden sich andere orientieren.

    Zur Person: Jean-Claude Juncker, (66), war von 2014 bis 2019 Präsident der Europäischen Kommission. Der Christdemokrat aus Luxemburg war auch Vorsitzender der Euro-Gruppe.

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