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Debatte: Deutschland braucht keinen Freedom-Day, sondern einen Corona-Gedenktag

Debatte

Deutschland braucht keinen Freedom-Day, sondern einen Corona-Gedenktag

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    Der Inzidenzwert und die Zahl der Corona-Neuinfektionen sowie Todesfälle steigen leicht an.
    Der Inzidenzwert und die Zahl der Corona-Neuinfektionen sowie Todesfälle steigen leicht an. Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

    Die Rufe werden lauter, Corona doch jetzt bitte einfach für beendet zu erklären und einen „Freedom Day“ zu feiern. Doch sie sind so nachvollziehbar wie falsch. Auch wenn die deutsche Impfquote plötzlich im internationalen Vergleich doch ganz ordentlich sein soll: Jetzt einfach alle Vorsichtsmaßnahmen aufzuheben, wäre leichtfertig.

    Corona-Politik in Deutschland: Alles muss jetzt auf den Prüfstand

    Während es draußen frostig wird und sich das Leben wieder weitgehend in Innenräumen abspielt, sind noch Millionen von Bundesbürgern ungeimpft. Grippeviren und andere Krankheitserreger verstärken die Furcht, dass dem Gesundheitswesen herausfordernde Monate bevorstehen. Ein Corona-Finale mit Massenkonzert, Feuerwerk und Freibier wäre da das falsche Signal.

    Richtig ist aber, dass jetzt die Zeit gekommen ist, die gesamte Corona-Politik auf den Prüfstand zu stellen. Was ist wirklich wirksam und was zum aktuellen Zeitpunkt noch notwendig? Vor allem: was ist vertretbar? Die Situation hat sich grundlegend geändert. Zumindest jeder Erwachsene hätte sich in den vergangenen Monaten kostenlos mit einem wirksamen Impfstoff schützen lassen können. Ein ganz großer Teil der Bevölkerung hat das, allen Unkenrufen zum Trotz, auch getan. Sicher können auch noch viele Unentschlossene überzeugt werden, was am besten durch Aufklärung gelingen kann und wohl weniger durch Zwang.

    Schulschließungen darf es nicht mehr geben, der Preis dafür ist zu hoch

    Das Risiko, selbst schwer zu erkranken, tragen die Impfverweigerer selbst. Was ihr Verhalten für die Gesellschaft bedeutet, steht auf einem anderen Blatt. Je mehr Menschen insgesamt geschützt sind – es dürfte auch eine hohe Dunkelziffer von Menschen geben, die etwa durch unbemerkte Erkrankung Antikörper aufgebaut haben – desto geringer wird aber die Gefahr, dass die Intensivbetten knapp werden. Zum Glück sind die Impfquoten gerade bei alten und chronisch kranken Menschen hoch.

     Jugendliche dagegen sind bislang nur zum Teil, Kinder gar nicht immunisiert. Nach allem, was die Forschung bislang weiß, sind junge Menschen aber erstens keine Infektionstreiber und zweitens nur äußerst selten von schweren Corona-Verläufen betroffen. Kinder bedürfen des besonderen Schutzes der Gesellschaft. Jede Maßnahme, die sie betrifft, muss besonders sorgfältig abgewogen werden. Schulschließungen etwa darf es nicht mehr geben. Der Preis, etwa in Form von zunehmenden Depressionen, sozialer Vereinsamung und Lerndefiziten ist zu hoch.

    Föderalismus als Chance: Bei erfolgreichen Lockerungen können andere nachziehen

    Ein weiterer Grund, warum die Pandemie zunehmend ihren größten Schrecken verliert, sind Fortschritte in der Behandlung von Corona mit Medikamenten. Covid-19 wird zu einer Krankheit wie viele andere. Was keinesfalls heißt, dass sie auf die leichte Schulter genommen werden darf – das werden andere lebensbedrohliche Leiden ja auch nicht.

    Voller Strand in Bournemouth. Fast alle Corona-Beschränkungen einschließlich Social-Distancing-Regelungen und das Tragen von Mund-Nasen-Schutz sind in England aufgehoben.
    Voller Strand in Bournemouth. Fast alle Corona-Beschränkungen einschließlich Social-Distancing-Regelungen und das Tragen von Mund-Nasen-Schutz sind in England aufgehoben. Foto: Steve Parsons/PA Wire, dpa

    Je beherrschbarer Corona wird, desto weniger sind einschneidende Maßnahmen, die das gesamte öffentliche Leben beeinträchtigen, politisch zu rechtfertigen. Jetzt ist die Zeit der Normalisierung, geordnet und umsichtig. Der Föderalismus, in der Pandemie oft kritisch diskutiert, kann helfen. Wenn Lockerungen in einem Bundesland ohne gefährliche Folgen bleiben, können andere nachziehen.

    Unser Gesundheitssystem war trotz Warnungen schlecht vorbereitet

    Beginnen muss jetzt auch eine Zeit der Aufarbeitung: Warum war das Gesundheitssystem so schlecht für eine Pandemie gerüstet, vor der Experten seit langem warnten? Trotz mancher Fehler und Ungereimtheiten in der Corona-Politik – Masken wurden zuerst für nutzlos erklärt, kurz darauf vorgeschrieben – hat der Staat seine Bürgerinnen und Bürger bisher vergleichsweise gut durch die Jahrhundert-Krise gebracht. Zur in der Pandemie wachsenden Staats-Skepsis haben auch einzelne gierige und korrupte Politiker beigetragen, die sich etwa mit Maskengeschäften an der Pandemie bereicherten.

    Was Deutschland braucht, ist kein Jubeltag mit Pauken und Trompeten. Sondern einen Corona-Gedenktag. Einen stillen Tag, um sich an die Menschen zu erinnern, die an oder im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind. Für viele von ihnen endete das Leben einsam, an einem Beatmungsgerät hängend, in einer Intensivstation. Ohne, dass ihnen Angehörige die Hand halten konnten. Unendlich viel Leid hat diese Pandemie verursacht, eine ganze Gesellschaft tief verwundet, und das darf nicht vergessen werden.

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