Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Interview: Historiker Münkler: "Wir erleben eine Rückkehr zur klassischen Machtpolitik"

Interview

Historiker Münkler: "Wir erleben eine Rückkehr zur klassischen Machtpolitik"

    • |
    Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität. Er hat Bücher über die Kriege der Vergangenheit und Gegenwart verfasst.
    Herfried Münkler ist emeritierter Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität. Er hat Bücher über die Kriege der Vergangenheit und Gegenwart verfasst. Foto: Stache, dpa

    Herr Münkler, 100 Tage währt der Krieg gegen die Ukraine nun schon. Die Lage wird immer schwieriger. Russlands Präsident Wladimir Putin setzt auf die Macht der langsamen, aber brutalen Zerstörung. Wird er am Ende als Sieger aus dieser Schlacht hervorgehen?

    Herfried Münkler: Siegen und verlieren – das sind schwierige Begriffe in diesem Krieg. Denn es gibt verschiedene Ebenen: die geopolitische, die politische, die wirtschaftliche und die strategische Ebene des Truppenvormarsches. Putins Strategie, mit schnellen Vorstößen auf Kiew, Charkiw und andere Städte sowie mit der Enthauptung der Regierung Herr des gesamten Raumes zu werden, ist gescheitert. Er muss also den langsamen und mühsamen Weg gehen. Allerdings spricht inzwischen einiges dafür, dass die Ukraine dies auf Dauer nicht durchhalten kann. Ich glaube, dass Präsident Selenskyjs Erklärungen, im Sommer werde die große ukrainische Gegenoffensive kommen, eher ein Pfeifen im Walde sind. Selbst wenn die Ukraine westliche Waffen bekommt, ist unklar, ob sie die kompetent einsetzen kann. Ich bin da im Augenblick eher skeptisch.

    Was heißt das für den Verlauf des Krieges?

    Münkler: Ich könnte mir vorstellen, dass es auf einen Waffenstillstand hinausläuft, der dann Schritt für Schritt in eine Befriedung des Konflikts übergeht – ob man wirklich von Friedensvertrag wird sprechen können, muss man sehen. Die Ukraine würde wohl große Teile des Donbass verlieren, genauso wie die Teile der Küste zum Schwarzen Meer. Das ist ein bitteres Ergebnis, zumal die Ukraine das sehr teuer bezahlt hätte. Aber ist das für Putin ein Sieg? Im Prinzip säße er auf einem Trümmerhaufen, den er erobert hat. Er hat alles kaputt geschossen und müsste sich dann selbst um den Wiederaufbau kümmern.

    Das Ergebnis könnte ein ewig schwelender Konflikt sein – weder die Ukraine noch Russland dürften sich mit diesem Status zufriedengeben.

    Münkler: Das Ergebnis darf nicht sein, dass immer wieder Kampfhandlungen aufflackern. Ziel muss sein, dass die Ukraine kein Interesse daran hat, zu einer revisionistischen Macht zu werden, dass sie also nicht darüber nachdenkt, wie sie das, was Putin ihr abgenommen hat, zurückholt. Das sind die klassischen Probleme von Friedensordnungen.

    Wie lassen die sich lösen?

    Münkler: Man könnte der Ukraine den Willen zum Revisionskrieg abkaufen, indem man ihr von Seiten der EU Wohlstand verspricht. Eine zweite Möglichkeit, die freilich bei den Russen läge, wäre Appeasement, also dass man den Wünschen der Ukraine entgegenkommt – doch das ist wenig wahrscheinlich. Putin wird die Gebiete, die er erobert hat, nicht zurückgeben. Die dritte Möglichkeit wäre klassisches Containment: Beide Seiten stehen sich hochgradig bewaffnet gegenüber. Das dürfte es sein, worauf man sich einstellen muss, wenn dieser Krieg zu Ende ist. Das wird für beide Seiten teuer werden.

    Präsident Selenskyj ist die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Er wurde in den Kriegstagen für viele Menschen zum Helden.
    Präsident Selenskyj ist die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Er wurde in den Kriegstagen für viele Menschen zum Helden. Foto: Ukrainian Presidential Press Office

    Könnte ein EU-Beitritt ein Versprechen an die Ukraine sein?

    Münkler: Dem müssen alle EU-Mitglieder zustimmen. Frankreich sagt explizit nein. Die Kopenhagener Kriterien müssen erfüllt sein – das wird für die Ukraine noch ein langer und schwieriger Weg. Die Europäer werden sich auch sehr gut überlegen, wie viele potenzielle Veto-Spieler sie haben wollen. Die Probleme mit Polen sind zuletzt zwar in den Hintergrund getreten, aber die mit Ungarn sind nach wie vor da. Hinzu kommt, dass aus dem Westbalkan bereits einige Kandidaten in der Warteschlange stehen. Eine Möglichkeit wäre, Länder in eine Ebene unterhalb der Vollmitgliedschaft aufzunehmen. Damit könnte man der Ukraine Möglichkeiten geben, wieder eine einigermaßen funktionierende Ökonomie aufzubauen.

    Sollte dieses Szenario Wirklichkeit werden, mag Putin Geländegewinne für sich in Anspruch nehmen, aber auf politischer Ebene hat er enorme Verluste erlitten. Er ist isoliert. Wie könnte ein Platz Russlands in der Weltgemeinschaft überhaupt noch aussehen?

    Münkler: Russland besitzt nach wie vor mehr als 50 Prozent aller weltweiten Nuklearsprengköpfe und die entsprechenden Trägersysteme – es wird auf Dauer nicht funktionieren, wenn man die Russen nicht zu Vereinbarungen und Gesprächen bewegt. Das Hauptproblem ist: Wie kann man das Vertrauen in Vereinbarungen mit Moskau wiederherstellen, nachdem es am 24. Februar komplett zerstört wurde? Ich kann das nicht sagen. Womöglich erst nach Putin. Diesen Weg werden die Berufsdiplomaten zu beschreiten haben.

    Ist eine Integration Russlands in die Weltgemeinschaft erst wieder nach ihm, nach Wladimir Putin, möglich?
    Ist eine Integration Russlands in die Weltgemeinschaft erst wieder nach ihm, nach Wladimir Putin, möglich? Foto: Mikhail Metzel, Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

    Und auf wirtschaftlicher Ebene?

    Münkler: Die Finanzkreisläufe Russlands und des Westens sind inzwischen weitgehend entkoppelt. Wir im Westen werden auf mindestens ein Jahrzehnt hinaus den Höhepunkt unseres Wohlstandes überschritten haben. Sanktionen werden sich mehr und mehr bemerkbar machen, wir kaufen auch nicht mehr so viel Öl und Gas wie vorher. Das kann Putin aber offenbar verschmerzen, weil er durch den höheren Öl- und Gaspreis weiterhin gut verdient. Das zeigt, dass die westliche Vorstellung, man könne den Gebrauch militärischer Gewalt durch wirtschaftliche Macht konterkarieren, so ohne Weiteres nicht aufgeht. Wirtschaftliche Sanktionen haben eine ungeheure Streuung, die auch die nicht besonders wohlhabende russische Bevölkerung trifft. Doch die macht Putin keinen Stress, weil sie verzichts- und leidensfähig ist. Technologie, wie etwa Chips, könnte Russland von den Chinesen bekommen. Das heißt aber, die Russen werden so etwas wie der Juniorpartner Chinas werden. Am Ende dürfte sich also Xi Jinping die Hände reiben, weil er den Takt des Geschehens in einer Koalition der autokratischen Staaten vorgibt.

    Für Putin dürfte das keine schöne Vorstellung sein...

    Münkler: Ja, auf der geopolitischen Ebene hat Putin keinen Stich gemacht. Fast könnte man sagen, er hat das Spiel verloren. Denn als Juniorpartner Chinas herauszukommen, das kann nicht sein Interesse gewesen sein. Aber es kann auch nicht in unserem Interesse sein, Putin in die Arme von Xi Jinping zu treiben.

    China ist ein gutes Stichwort. Gerade erst wurde offengelegt, wie massiv die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Uiguren sind. Glauben Sie, dass Russlands Krieg ein Anstoß ist, auch andere politische Partner neu zu bewerten?

    Münkler: Schauen wir kurz zurück auf das, was im Sommer auf dem Flughafen von Kabul geschehen ist. Möglicherweise war das ein Vorgeschmack auf die tiefen Veränderungen im Hinblick auf unsere eigenen politischen Vorstellungen. Wir haben, wenn ich das mal so dramatisch sagen darf, die afghanischen Frauen den Taliban ausgeliefert. Das heißt, dass wir künftig den Geltungsanspruch von Menschenrechten tendenziell auf das eigene Gebiet beschränken werden. Das wird sich auch im Umgang mit China zeigen. Es kommt niemand auf die Idee zu sagen, dass wir Wirtschaftssanktionen brauchen. Sollten sich westliche Firmen tatsächlich aus China zurückziehen, dann tun sie das, um für westliche Kunden, die auf Menschenrechtsfragen schauen, attraktiver zu sein. Nicht die Politik, sondern der Markt wird also die Regeln aufstellen. Erwachsen wird daraus eine Weltordnung, die aus fünf großen Mächten besteht: China, Russland, die USA – die Europäer gehören dazu, wenn sie sich von einem Regel-Bewacher in einen handlungsfähigen Akteur verwandeln. Ich würde nicht drauf wetten, dass sie das schaffen…

    Wer ist der fünfte Teil des Machtblocks?

    Münkler: Das wird Indien sein. Das Land sieht sich als die größte Demokratie der Welt, tatsächlich herrscht in dem Land aber ein ruppiger Hindu-Nationalismus. Indien will das Zünglein an der Waage sein, sympathisiert mal mit Russland, mal mit dem Westen. Es lässt sich seine Sympathien abkaufen. Es werden also die demokratischen Staaten den autokratischen Staaten gegenüberstehen. Das aber heißt, dass das Projekt der universalen Werte und Normen zu Ende ist. Und das hat viele Nachteile. Die großen Menschheitsfragen, wie Klimawandel, Hunger im Süden, Migrationsbewegungen, werden wir so kaum in den Griff bekommen. Verhandlungen werden nach dem Muster verlaufen: Willst du dies, gibst du mir das. Was wir erleben, ist in vielerlei Hinsicht eine Rückkehr zur klassischen Machtpolitik, mit Aushandlungsdiplomatie.

    Ein Bild der Verwüstung in Butscha. Die Welt wird nie wieder so sein wie vor dem Ukraine-Krieg. Aber wie die neue Weltordnung nach einem Kriegsende aussehen wird, weiß heute noch niemand so genau.
    Ein Bild der Verwüstung in Butscha. Die Welt wird nie wieder so sein wie vor dem Ukraine-Krieg. Aber wie die neue Weltordnung nach einem Kriegsende aussehen wird, weiß heute noch niemand so genau. Foto: Rodrigo Abd, dpa

    Nicht nur die Politik, sondern auch die deutsche Bevölkerung war schockiert über den russischen Einmarsch in die Ukraine. Vieles, an das wir geglaubt haben, hat sich als eine Art Lebenslüge herausgestellt: Wandel durch Handel, Frieden schaffen ohne Waffen, wer miteinander spricht, schießt nicht… Was macht das mit der Gesellschaft?

    Münkler: Die Gesellschaft muss umlernen: Sie entlernt bestimmte Dinge, die sie vorher für unveränderlich gehalten hat. Das können Gesellschaften im Prinzip. Der Anstoß für das Umlernen sind Schockerlebnisse, wie etwa der Einmarsch in die Ukraine. Aber dann gibt es auch noch die Nostalgiker, die immer ein bisschen hinterher hängen. Das ist zurzeit die Friedensbewegung. Sie weiß nicht genau, wie sie mit dem Thema Waffenlieferungen umgehen soll. Ist sie weiterhin dagegen? Oder hält sie es mit dem Grünen Anton Hofreiter: Si pacem vis para bellum – wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. Grundsätzlich war die bisherige Politik eine geniale Konstellation: Durch ein Modell der wirtschaftlichen Verflechtung wurden gegenseitige Abhängigkeiten und damit die Grundlage für Vertrauen geschaffen. Nordstream 2 war nichts anderes als materiell gewordenes Vertrauen. Man musste nicht so viel Geld für Rüstung ausgeben, man kam günstig an Energie und Rohstoffe. Und russisches Gas ist auch ökologisch sehr viel vertretbarer als amerikanisches Fracking-Gas. Insofern könnte es gut sein, dass es schon bald wieder eine starke Gruppe geben wird, die auf den Abschied von Putin hofft und zu einer Politik Steinmeierschen Typs zurückkehren will.

    Auch die Lehren, die aus der deutschen Vergangenheit gezogen werden, haben sich um 180 Grad gewandelt. „Nie wieder“ – diese Parole wird heute anders interpretiert als noch vor einem halben Jahr. Beeinflusst das die für Deutschland so wichtige Erinnerungskultur?

    Münkler: Ganz neu ist das nicht. Schon Joschka Fischer hat gesagt: „Nie wieder Krieg“ muss ergänzt werden durch „Nie wieder Auschwitz“ und damit für den Bundeswehr-Einsatz im Kosovo geworben. Trotzdem glaube ich nicht, dass wir wieder eine heroische Gesellschaft werden. Dafür haben wir nicht die demografischen Reproduktionsraten. Gesellschaften brauchen viel mehr Kinder, um heroisch sein zu können. Verändern wird sich die wohlige Vorstellung, dass, wenn wir uns richtig verhalten, alles gut wird.

    Die Deutschen waren Moral-Weltmeister. Aktuell gelten sie vielen als das schwächste Glied in der Kette.

    Münkler: Die Bigotterie ist aufgeflogen. Genauso wie die Erzählung, dass wir keine Waffen in Kriegsgebiete liefern. Das war ja am Anfang die Verteidigungslinie gegenüber den Erwartungen der Ukraine. Und dann kam heraus, dass wir ständig Waffen in Krisengebiete liefern: an das Nato-Mitglied Türkei, an Ägypten… Moral-Weltmeister waren wir also immer nur auf der Grundlage, dass wir nie so genau hingeschaut haben. Das Kommunizieren des Moralischen war durchaus auch eine Form deutscher Interessenspolitik: Man hat sich dadurch mit vielen NGOs verbunden und seinen Einfluss vergrößert. Aber die politische Bewirtschaftung von moralischen Erwartungen hat den unangenehmen Effekt, dass, wenn es wirklich ernst wird, man unter erhöhtem Druck steht. Kein ukrainischer Botschafter in einem anderen europäischen Land konnte so viel Druck machen wie Andrij Melnyk, weil er die Deutschen an ihrem Moralbeutel hatte.

    Wie sehen Sie die Rolle von Kanzler Scholz?

    Münkler: In mancher Hinsicht setzt er den Führungsstil von Angela Merkel fort: relativ lange beobachten, ausgleichen, moderieren. Andererseits fehlt ihm etwas, was Merkel eben auch konnte: In bestimmten Situationen auch von vorn zu führen. In Scholz’ Zeitenwende-Rede hatte man das Gefühl, er sei ein gelehriger Schüler. Jetzt zeigt sich aber, dass es in einer Dreierkoalition schwieriger ist als in einer Zweierkoalition. Hinzu kommt, dass die Folgebereitschaft der Sozialdemokratie ihm gegenüber – nachdem er sie durch den Sieg der Bundestagswahl gerettet und geheilt hat – zwar groß ist, aber nicht bedingungslos. Aber ich glaube, es fehlt ihm auch die Bereitschaft und Fähigkeit, riskante Entscheidungen zu treffen. Viele Wähler schätzen zwar diese Risikovermeidung. Aber es gibt eben Zeitumstände, die dazu führen, dass man damit nicht durchkommt. Es wird sich über kurz oder lang eine Krise für die Dreierkoalition daraus entwickeln.

    Weil Olaf Scholz zum Getriebenen wird?

    Münkler: Wenn nicht Putins Panzer über den Koalitionsvertrag gerollt wären, hätte das alles gut funktionieren können. Und dann hätte auch die spezifische Führungsfähigkeit von Olaf Scholz gereicht, um diesen Prozess zu moderieren. Das entscheidende Problem ist eben die Veränderung der Zeitumstände, die es erforderlich machen, dass jemand auf der Grundlage von eigenem Charisma und dem Charisma des Amtes Entscheidungen trifft und die auch durchsetzt. Das Vertrauen in die Führungsfähigkeit von Olaf Scholz zerbröselt.

    Warum tut sich die SPD so schwer mit der Zeitenwende? Warum gelingt das den doch eigentlich so friedensbewegten Grünen aktuell besser?

    Münkler: Die Grünen haben zwar auf der einen Seite ihre pazifistische Anti-Aufrüstungs-Tradition gepflegt, aber sie haben auf der anderen Seite auch ein starkes Werte-Gerüst, das sie verteidigen wollen. Die SPD hat das nicht in diesem Ausmaß. Sie ist darauf angewiesen, Wohltaten an ihre Klientel verteilen zu können. Die hohe Inflation, die wachsenden Rüstungsausgaben – das alles schränkt die Möglichkeiten des Sozialministers ein. Das wissen die Genossinnen und Genossen ziemlich genau. Die SPD leidet, sie schwitzt, aber Schwitzen ist keine politische Strategie.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden