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Interview: Claudia Roth: "Ich lass mir doch den Tschechow nicht von Putin wegnehmen"

Interview

Claudia Roth: "Ich lass mir doch den Tschechow nicht von Putin wegnehmen"

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    Kulturstaatsministerin Claudia Roth ließ sich vor 200 Zuschauerinnen und Zuschauern in Augsburg interviewen.
    Kulturstaatsministerin Claudia Roth ließ sich vor 200 Zuschauerinnen und Zuschauern in Augsburg interviewen. Foto: Ulrich Wagner

    Frau Roth, die Ampelkoalition ist mit viel Elan gestartet. Dann kam der Krieg in der Ukraine, seitdem befindet sich das Land im Krisenmodus. Macht das Regieren unter diesen Umständen noch Spaß?

    Claudia Roth: Es ist ja nicht nur eine Krise, es sind mehrere. Die Corona-Pandemie ist nicht vorbei – was kommt da im Herbst auf uns zu? Dann gibt es die neuen wissenschaftlichen Zahlen zur Erderwärmung, die dramatisch sind: Schon in vier Jahren wird die Erwärmung um 1,5 Grad gestiegen sein. Dazu kommt der Krieg. Wenn man sich bewusst macht, dass es von Berlin bis nach Lwiw nur etwa knapp 1000 Kilometer sind, bis Odessa 2000 – dann ist das zwar weit, aber gleichzeitig auch total nah. Diese drei Krisen, die sich gegenseitig verstärken, haben Auswirkungen auf unser Leben, insofern ist Spaß das falsche Wort. Natürlich musst du Freude haben an dem, was du tust, an den Herausforderungen. Aber der Spaßfaktor ist momentan eher gering.

    Was glauben Sie, wie lange wird uns diese Situation beschäftigen?

    Roth: Lange, denn es sind in der Koalition auch Beschlüsse gefasst worden, die in der Konsequenz eine Veränderung bedeuten. Sie können sich wahrscheinlich denken, was es für mich als Grüne bedeutet, wenn jetzt hundert Milliarden für Rüstung bereitgestellt werden müssen, wenn massive Waffenlieferungen stattfinden. Aber was ist die richtige Antwort auf diese entgrenzte Gewalt, auf ein Regime, das ein souveränes Land überfällt, das lügt und mordet? Unsere Außenministerin hat gesagt, diplomatische Offensive, ja, aber zugleich gilt das Selbstverteidigungsrecht eines Landes. In der Konsequenz kommen große Aufgaben auf uns zu. Wie befreien wir uns von den Abhängigkeiten? Was glauben Sie, was das heißt, wenn ein grüner Wirtschafts- und Klimaminister nach Katar fahren muss, um einen Vertrag über Gaslieferungen auszuhandeln, bis wir unabhängig werden? Dieser Krieg hat noch andere Ausprägungen.

    An welche denken Sie?

    Roth: Wladimir Kaminer, ein großartiger Autor, halb Russe, halb Ukrainer, hat geschrieben, dass die Propaganda, die stattfindet, eine der gefährlichsten Waffen überhaupt ist. Desinformation, Fake, Lüge, da verlieren die Menschen das Vertrauen in Informationen. Umso mehr sollten wir uns bewusst sein, was unsere Demokratie reich macht. Da gehört die vierte Säule der Demokratie dazu, die unabhängigen Medien. Wir sind dabei, das zu stärken. Wir müssen alles dafür tun, dass die Demokratie nicht geschwächt wird.

    Was bedeutet dieses „alles“? Sie, Frau Roth, kommen aus der Zeit der Friedensbewegung, wo es hieß, Frieden schaffen ohne Waffen. Plötzlich sind die Grünen die Partei, die sagt, Frieden schaffen notfalls auch mit Waffen.

    Roth: Wichtig ist, dass man nicht glaubt, dass es auf diesen gewalttätigen Wahnsinn eine Patentantwort gibt. Die Menschen in der Ukraine fühlen sich als Europäer. Sie kämpfen für Freiheit und für demokratische Rechte, die für uns selbstverständlich sind. Sie sagen aber auch: Wir brauchen die Mittel dafür, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Da haben wir gesagt: Gut, dieses Recht ist anzuerkennen. Deswegen waren wir auch für Waffenlieferungen.

    Sie haben vorhin von Propaganda gesprochen. Ist das auch eine Herausforderung, die unabhängig von diesem Krieg bisher unterschätzt wurde?

    Roth: Wir haben gnadenlos unterschätzt, was für ein Gift das ist. Sie schafft diese Verunsicherung, dass sich niemand mehr eine Meinung bilden kann, weil niemand mehr weiß, wem zu vertrauen ist. Das ist Gift für eine Demokratie. Wladimir Kaminer hat mir von seiner Mama erzählt, die auch in Berlin lebt. Sie will halt russische Filme in russischer Sprache sehen, aber die Filme werden alle zehn Minuten unterbrochen von russischen Nachrichten. Kaminer sagt, das ist eine Gehirnwäsche, die da passiert, er selbst merkt bei seiner Mama, wie das wirkt. Was ich aber völlig falsch finde, wäre ein Boykott von allem, was russische Kultur ist. Ein Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen hat vor kurzem einem Jugendorchester untersagt, Tschaikowsky zu spielen. Es gab eine öffentliche Diskussion, dann durften sie es doch spielen. Aber die Debatte tobt natürlich. Es gibt eine große Verunsicherung, wie mit russischer Kultur umzugehen ist. Ich glaube, dass ein Boykott völlig falsch ist, denn es sind ja oft die russischen Künstler und Künstlerinnen, die versuchen, die letzten Freiräume aufrechtzuerhalten. Und es gibt so großartige russische Kultur, sei es Musik, sei es Literatur, sei es Anton Tschechow. Ich lass mir doch den Tschechow nicht von Putin wegnehmen!

    Der Krieg überlagert alles, das merken wir auch in unserem Gespräch. Wir müssen aber auch über die Documenta reden. Es hat hohe Wellen geschlagen, dass mitten in dieser lange vorbereiteten Ausstellung ein Kunstwerk stand mit klar antisemitischem Inhalt. Wie konnte das passieren?

    Roth: Die Frage habe ich mir auch intensiv gestellt. Im Januar war ein Verdacht aufgekommen, und dann haben Gespräche stattgefunden. Ich habe mich mit den Kuratoren getroffen und mit den Kollektiven getroffen, ich habe Expertinnen und Experten aus Israel und weiteren Ländern vorgeschlagen, aber ich als Beauftragte der Bundesregierung bin eben gar nicht in der Organisationsstruktur drin. Die Documenta ist eine der wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst weltweit, und die Kunstfreiheit ist eine der wichtigsten, vom Grundgesetz geschützten Freiheiten, was auch mit unserer Geschichte ganz viel zu tun hat. Aber es gibt eine Grenze der Kunstfreiheit, wenn es zu Antisemitismus, zu Menschenfeindlichkeit und Rassismus kommt. Das, was dann gefunden worden ist, ist ohne Wenn und Aber antisemitische Bildsprache. Die Konsequenz daraus muss sein, dass man sich anschaut: Wer hat die Verantwortung? Wie kann man, wenn Kuratoren von außen kommen, diese ganz anders begleiten? Denn das ist ja hier in Deutschland. Ich glaube nicht, dass die eine Ahnung hatten, was unsere tatsächlich wichtigen historischen Verantwortungen und Sensibilitäten sind.

    Sie sind nicht die erste Ministerin in dieser Koalition, die sich mit Rücktrittsforderungen herumschlagen muss. Die Ampel ist in eine schwierige Situation geraten. Wie würden Sie das Klima in der Regierung bezeichnen?

    Roth: Da kommen drei Parteien zusammen, die natürlich in vielen Punkten nicht eine Meinung haben. Da muss man dann zeigen, dass Politikfähigkeit auch Kompromissfähigkeit ist und dass man sich an den Koalitionsvertrag hält, auch wenn der natürlich in vielen Punkten jetzt ein Stück weit überholt ist durch die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Und jetzt stehen natürlich Verteilungskämpfe an.

    Markus Söder hat sich in unserem Interview gerade bitter beklagt, dass Bayern in dieser Regierung keine Lobby hat, weil es keine bayerische Ministerin, keinen Minister gibt. Dann ist ihm eingefallen, dass es Claudia Roth gibt, aber das hat ihn nicht wirklich beeindruckt. Können Sie die Bayern-Lücke nicht füllen?

    Roth: Ich glaube schon, dass das eine bestimmte Herausforderung ist für die CSU, sich vorzustellen, dass die Person, die im Kabinett sitzt, ausgerechnet Claudia Roth ist. Aber so ein Bundeskabinett ist nicht dafür da, regionale Politik zu machen oder Lobbypolitik für ein jeweiliges Bundesland. Wir können es uns jetzt nicht leisten, parteipolitisches Geplänkel zu machen. Markus Söder kann sich sicher sein, dass ich nicht vergesse, woher ich komme – aus Schwaben.

    Mit einem von Söders Vorgängern, Günther Beckstein, haben Sie ein sehr enges Verhältnis. Gibt es so etwas wie Freundschaften in der Politik?

    Roth: Mit Günther Beckstein, da würde ich wirklich sagen, ja. Wenn jemand Parteifreund ist, da kann es ganz schön eng werden. Es gibt lange Beziehungen, wo man sich vertraut, wo man sich auch drauf verlassen kann. Aber ich glaube, was wahnsinnig wichtig ist, dass du außerhalb von der Parteipolitik, dass du da Freundschaften hast, Menschen, die dich mögen und nicht, weil du Abgeordnete oder Ministerin bist. Ich habe mit zwei meiner besten Freunde, der eine Pianist, der andere Schlagzeuger, 1985, als ich bei den Grünen angefangen habe, einen Vertrag gemacht. Darin haben wir besiegelt, dass sie mich unangemeldet besuchen, mit mir einen Tag verbringen und checken, ob ich noch zuhören kann, ob mir ihre Probleme noch was bedeuten, ob ich weiterhin die Claudia bleibe.

    Claudia Roth mit den Redakteuren Richard Mayr (links) und Michael Stifter.
    Claudia Roth mit den Redakteuren Richard Mayr (links) und Michael Stifter. Foto: Ulrich Wagner

    Und? Waren Sie noch die Claudia?

    Roth: Der Pianist war strenger, der hat mir zweimal angedroht, er zeigt mir die Gelbe Karte. Bei der Roten Karte war im Vertrag drin gestanden: Einen Schnitt machen. Und der Schlagzeuger hat gesagt, du bist so im Wirbeln, du merkst nicht, wenn ich nicht weiß, wie ich als Musiker die Miete bezahlen soll, du hörst nicht mehr zu, du bist nicht mehr offen. Das aber ist extrem wichtig: Dass du diese Anker hast, dass du vor der Politik auch schon mal eine Perspektive hattest, einen anderen Beruf, und dass du dir vorstellen kannst, nach der Politik etwas anderes zu tun. Denn sonst bist du extrem abhängig.

    Sie haben sich, mit 65 Jahren, eine eigene Wohnung genommen. Zum ersten Mal. Unsere Leser hat das sehr interessiert. Vorher hatten sie immer in Wohngemeinschaften gelebt. Wie fühlt sich das an?

    Roth: Glauben Sie nicht, dass das nur hier gelesen wurde. Ich werde unfassbar oft darauf angesprochen. Viele Jahre habe ich mit Rainer Erben, dem Umweltreferenten der Stadt Augsburg, in einer Wohngemeinschaft gelebt. Aber es wurde immer anstrengender mit dem Alter, viereinhalb Stockwerke hoch die schweren Koffer zu schleppen. Dann habe ich mir gedacht, dass ich es mit einer eigenen Wohnung versuche, einer schönen, klitzekleinen Wohnung. Da gibt es einen Aufzug und eine kleine Loggia. Dann habe ich in einem wunderschönen Augsburger Geschäft mich von Grund auf ausgestattet. Dort haben sie mich erst mal angeguckt, dann haben wir gelacht. Es kommt ja nicht so oft vor, dass eine Frau mit über 60 Jahren zum ersten Mal in eine eigene Wohnung zieht und anfängt, Messer, eine Pfeffermühle und all das andere einzukaufen.

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