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AZ-Literaturabend: Autorin Ursula Krechel und die Geister der Geschichte

AZ-Literaturabend

Autorin Ursula Krechel und die Geister der Geschichte

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    Schriftstellerin Ursula Krechel war am Freitagabend zu Gast in der Augsburger Stadtbibliothek. Beim AZ-Literaturabend las sie aus ihrem Roman "Geisterbahn".
    Schriftstellerin Ursula Krechel war am Freitagabend zu Gast in der Augsburger Stadtbibliothek. Beim AZ-Literaturabend las sie aus ihrem Roman "Geisterbahn". Foto: Ulrich Wagner

    Sie ist eine der bekanntesten deutschen Autorinnen und eine präzise Chronistin der jungen Bundesrepublik. Am Freitagabend liest Ursula Krechel beim Literaturabend unserer Zeitung in der Augsburger Stadtbücherei aus ihrem jüngsten Werk „Geisterbahn“ – und beeindruckt die Besucher nachhaltig.

    Krechel, 1947 in Trier geboren, zeichnet in ihrem Buch das Leben der Familie Dorn nach. Vater Alfons, Mutter Lucie und die vielen Kinder. Sie sind stolze Sinti, sprechen untereinander Romanes, ziehen als Schausteller durch die Moselgegend und haben ein kleines Haus in Trier. Doch der Alltag wird zusehends schwerer, seitdem Hitler an der Macht ist. Krechel wählt für die Lesung Passagen aus der Zeit nach dem Krieg: Fünf Dorn-Kinder sind im KZ gestorben. Die Eltern, schwer gezeichnet, müssen den Rest ihres Lebens mit den Geistern der Vergangenheit leben – die in immer neuen Gesichtern wieder auftauchen. Auch im Leben von Anna und Ignaz, den überlebenden Geschwistern, die ein Restaurant aufmachen und dort eines Morgens vor einer verschmierten Wand stehen: mit SS-Runen.

    Ursula Krechel erzählt in "Geisterbahn" eine wahre Begebenheit

    Krechel wurde als Bühnen- und Hörspielautorin und durch ihre Gedichte bekannt, berühmt aber durch ihre Romane, in denen sie sich nach umfangreichen Recherchen mit Exilanten und Remigranten während und nach der Nazizeit befasst. In „Shanghai fern von wo“, dem ersten Band einer mit „Geisterbahn“ vollendeten Trilogie, schreibt sie von jüdischen Exilanten in Schanghai. Auch ihr 2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter und verfilmter Roman „Landgericht“, Teil zwei in der Reihe, beruht auf einer wahren Begebenheit: Ein jüdischer Richter kommt nach dem Krieg zurück und zerbricht im Nachkriegsdeutschland daran, dass ihm seine Familie fremd geworden ist und er in seinem Beruf nicht Fuß fassen kann.

    Im Gespräch mit Michael Schreiner und Lea Thies aus der AZ-Journal- und Kulturredaktion gibt Krechel Einblick in ihr Schreiben. Sie beschreibt es als eine Art Doppelbelichtung historischen Materials mit Angereichertem, Möglichem. „Vieles, was wir über die Geschichte wissen, wissen wir nur über die Literatur“, sagt Krechel, „weil sie Geschichten erzählt, Zusammenhänge herstellt und Sinnlichkeit erzeugt. Literatur ist ein Aufbewahrungsort von Individualität und Besonderem.“ Krechel schildert, wie sich das Grauen immer mehr in das Leben der Familie Dorn frisst, eines aber lässt sie aus: „Es erschien mir unangemessen, Szenen aus dem KZ zu erfinden. Wer Imre Kertesz gelesen hat, hat eine heilige Scheu, schlechter zu sein.“

    Pointierte Diskussion im Literarischen Salon in der Augsburger Stadtbibliothek

    Nach dem starken Auftritt der Autorin ist für viele Besucher des beinahe ausverkauften Abends zumindest eine Frage geklärt: Was lesen? Diese für alle Leser so bedeutende Frage steht leitmotivisch auch über unserem heutigen Wochenend-Journal, das als große Buchbeilage zur Leipziger Messe erscheint. Wir haben dreizehn namhafte deutschsprachige Schriftsteller gebeten, uns zehn Bücher zu nennen, die sie geprägt haben. In einem Vorab-Sonderdruck der Beilage können die Besucher in der Stadtbücherei bereits schmökern und viele weitere Anregungen finden, bevor der „Literarische Salon“ wieder zusammentritt.

    Gewohnt pointiert diskutieren Stefanie Wirsching, Marius Müller und Kurt Idrizovic, moderiert von AZ-Kulturredakteur Wolfgang Schütz, drei druckfrische, teils sehr kontrovers aufgenommene Romane des Frühjahrs (siehe Kasten rechts). Und weil erwachsene Leser meist schon als Kinder und Jugendliche zu Büchern gegriffen haben, gibt AZ-Kulturredakteurin Birgit Müller-Bardorff, Expertin für Kinder- und Jugendliteratur, noch Antworten auf die Frage nach der richtigen Lektüre für diese Altersklasse. Dringend zu empfehlen: A. L. Kennedys-Jugendbuchdebüt „Onkel Stan und Dan“ (Orell Füssli) sowie Lois Lowry „Die schreckliche Geschichte der abscheulichen Familie Willoughby“ (Beltz). Fraglich freilich, ob die Besucher im Anschluss, nach so viel Sprechen über Bücher, noch Kraft zum Lesen hatten.

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