Die Brechtbühne liegt im Dämmerlicht, die Opernprobe beginnt im Halbdunkel. Doch durch die Kulisse schimmert Anna Maleks Silhouette, ihr Schatten bewegt sich und die Musik folgt ihr. Präzise Geste, klarer Schwung, so leitet sie das Bühnenorchester, Trompete, Geige, Trommel. Die Geschichte spielt jetzt im Scheinwerferkegel: Mit großen Augen blickt die Sopranistin Olena Sloia in die Zuschauerränge und klammert sich an ein Heftchen in ihrer Hand. "Dich, mein Tagebuch, habe ich zuerst gesehen", singt sie. Es sind die Worte der Anne Frank, des jüdischen Mädchens, das im KZ Bergen-Belsen zu Tode kam und das der Welt ein Werk hinterlassen hat.
Das Staatstheater Augsburg probt "Das Tagebuch der Anne Frank" – in einer Opern-Fassung. Jetzt winkt Anna Malek aber ab. Kurze, freundliche Bitte an die Regie: Etwas mehr Licht für die Musiker wäre hilfreich. Damit die Pianistin auch ihre Tasten trifft. Und weiter geht es: "Ziffer 19 bitte!" Malek ist die neue 2. Kapellmeisterin der Augsburger Philharmoniker und die erste Inszenierung, die sie am Staatstheater musikalisch leitet, erzählt von Anne Frank.
Anna Malek hat von Daniel Barenboim gelernt
An ihr erstes Dirigat vor großem Orchester erinnert sich Anna Malek noch mit starken Gefühlen. Sie bewarb sich damals in Leipzig um einen Studienplatz, mit Brahms 3. Sinfonie. "Es war ein Rausch", sagt die 33-Jährige heute. "Dieses Gefühl hat mich seither nicht mehr losgelassen." Und dieser Rausch hat sie nach Augsburg geführt.
Ihr Lebensweg zum Taktstock liest sich international. In Lettland kam sie 1990 zur Welt, als Tochter einer Familie von Ingenieuren. Früh zog sie mit den Eltern nach Deutschland und in Karlsruhe begann für sie eine "glückliche musikalische Kindheit" mit Geige, Klavier, Gesang. Ihre frühen Träume: Komponistin werden! Oder Sängerin? Eine Stelle im Rundfunkchor zu finden, das sei lange ihr Berufsplan B gewesen, verrät Malek. Und so war sie früh als Chorleiterin und Chordirektorin gefragt, als Fachfrau für die Stimme. Immer wieder lud sie der Bachchor Salzburg ein, auch der Rundfunkchor Berlin.
Doch den Durchbruch brachte ein Orchester: An der Staatsoper Unter den Linden dirigierte sie 2021 Mozarts "Zauberflöte". Mit der Staatskapelle eines der weltbesten Orchester zu leiten, das sei ein Glück gewesen, schwärmt sie. Und dort, an der Staatsoper, traf sie als stellvertretende Chordirektorin auch Daniel Barenboim, einen der ganz Großen am Pult. "Ein Satz von ihm wird mir immer in Erinnerung bleiben: Mache nur Musik, wenn du nicht anders kannst", erzählt sie. "Und was mich an ihm so beeindruckt, ist diese bewusste Sparsamkeit in der Bewegung, diese hypnotische Kraft der kleinen Geste."
Frau zu sein am Dirigentenpult, spielt das für Anna Malek eine Rolle?
In diesen Sprung von der Chordirektorin zur Dirigentin platzte jedoch – Corona. Lockdowns, verriegelte Konzertsäle, Talente in der Warteschleife. "Aber hinter geschlossenen Türen habe ich mich dann weiter ganz auf die Verfeinerung des Handwerks und meine Arbeit konzentriert", erzählt Malek. Und wie versteht sie ihr Handwerk? "Mir geht es als Dirigentin nicht zuerst um die Erfüllung eines eigenen Entwurfs, einer eigenen Idee des Werks." Sie wolle die Kraft der Musiker bündeln, ihnen zur Bestleistung verhelfen, "ein Teil des Ganzen sein".
Dass eine Frau an der Spitze des Ganzen, des Orchesters steht, gilt zwar noch immer als Seltenheit. Doch: "Das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wäre eine große Energieverschwendung. Ich bin als Dirigentin ein neutrales Medium, jenseits aller Geschlechtlichkeit." Neutral – und offenbar ohne Nervenflattern, Lampenfieber: "Ich spüre keine unangenehmen Symptome wie Herzklopfen, nur große Anspannung. Aber meine Aufgabe ist es auch, fokussiert zu sein." Bei ihrem Vordirigat in Augsburg, da ging ihr Puls trotzdem schneller. Andere Kandidaten fielen aus, eine Lücke tat sich im Zeitplan auf, Malek sputete sich: "An diesem Tag bin ich quasi direkt aus dem Auto gefallen und schon stand ich auf dem Podest." Ihr erster Eindruck nach der Aufregung? "Die Augsburger Philharmoniker sind ein außerordentlich herzliches Orchester, sehr offen und leistungsstark."
Anna Malek leitet die Inszenierung des "Tagebuchs der Anne Frank"
Das Ensemble leitet Malek jetzt in kleiner Besetzung, mit neun Musikern. "Das Tagebuch der Anne Frank" hat der Russe Grigori Frid in Töne gefasst, in eine intensive Miniatur von 60 Minuten, die 1969 ihre Uraufführung erlebte. Die Regisseurin Nora Bussenius sucht in Augsburg nach Bildern für dieses Leben im Versteck, die Kindheit im Hinterhaus, die Hoffnung eines Mädchens im Verborgenen. Diese Mono-Oper ist Anna Malek schon seit dem Studium vertraut. "Die Thematik liegt mir auch durchaus nahe", sagt sie. "Aber das Werk konzentriert sich nicht nur auf eine historisierende Betrachtung. Es ist auch eine zeitlose Geschichte eines jungen Menschen."
Für Malek begann die Arbeit mit dem Klavierauszug, in Proben mit der ukrainischen Sopranistin Olena Sloia, die in dem Stück die einzige Rolle trägt. Nun singt sie in einer Kulisse zwischen obskuren Glaskästen, Schutthaufen, Schwarz-Weiß-Fotos, Leinwandvideos – und vor dem Orchester. "Piccoloflöte, Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Celesta, Trompete und mehr, diese Klangfarbe hat Züge von Schostakowitsch und es kann auch laut werden", sagt die Dirigentin. An diesem Klang will sie arbeiten, bis zur Premiere am 3. Februar um 19.30 Uhr, auf der Brechtbühne im Gaswerk.