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Raum Augsburg: Ausländische Schüler, schlechte Schüler?

Raum Augsburg

Ausländische Schüler, schlechte Schüler?

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    Ein Problem ist, dass viele Schüler mit Migrationshintergrund daheim kein Deutsch sprechen.
    Ein Problem ist, dass viele Schüler mit Migrationshintergrund daheim kein Deutsch sprechen. Foto: Waltraud Grubitzsch, dpa

    Bei „Marcus Gladiator“ musste Emre sich quälen wie lange nicht. Seine Klasse hat das Buch über einen versklavten Jungen im alten Rom im Deutschunterricht gelesen. „300 Seiten“, stöhnt der 13-Jährige. Emre besucht die achte Klasse der Mittelschule Gersthofen im Landkreis Augsburg.

    Seine Eltern stammen aus der Türkei. Sein Vater hilft Emre mit den Schulaufgaben, wenn es nötig ist. „Ich habe ihm gesagt, wenn er 20 Seiten liest, darf er 30 überspringen“, verrät Nursal Dede, 50. Das hat funktioniert. Manchmal muss man eben ein bisschen schummeln, das ist in den besten Familien so.

    Für heute ist der Unterricht vorbei. Emre, der eben noch Werken hatte, kommt zu seinem Vater in das Gesprächszimmer. Das Schulgebäude ist erst vor kurzem eingeweiht worden. Alles ist neu, viel Glas, viel Holz. Nur das Zimmer hier sieht ein bisschen aus wie ein Verhörraum.

    Nursal Dede kennt die Schule gut, er kommt oft hierher. „Bestimmt vier Mal im Schuljahr“ tausche er sich mit den Lehrern aus. Probleme gibt es selten, Emre hat einen Zweier-Schnitt.

    In Bayern tun sich die Kinder besonders schwer

    Bei vielen Schülern mit Migrationshintergrund ist das anders. Fast jeder zweite Jugendliche mit ausländischen Wurzeln zeigt „sehr schwache Leistungen“, wie eine Sonderauswertung der berühmten Pisa-Studie kürzlich ergeben hat. Der Anteil ist damit fast zweieinhalbmal so hoch wie unter Gleichaltrigen mit deutschen Eltern. „Kinder mit Migrationshintergrund haben es einfach sehr viel schwerer“, sagt Studienautorin Lucie Cerna.

    Die Pisa-Auswertung bezieht sich auf das Jahr 2015. Damals hatten 28 Prozent der 15-jährigen Schüler Wurzeln in einem anderen Land. Inzwischen dürften es noch mehr sein – allein, weil in den Monaten danach so viele Flüchtlingsfamilien wie nie zuvor ins Land kamen. „Wir gehen davon aus, dass die Situation an den Schulen noch schwieriger geworden ist“, sagt Cerna.

    Was aber ist der Grund dafür, dass so viele Migrantenkinder im Unterricht derart hinterherhinken? Den einen Grund, das macht Cerna deutlich, gibt es nicht. Es sind mehrere Faktoren: Sie haben häufiger das Gefühl, in der Schule nicht dazuzugehören, leiden unter schulbezogenen Ängsten, sind insgesamt unglücklicher als ihre deutschen Mitschüler.

    Vieles hängt von der Bildung der Eltern ab

    Und dann ist da das Problem der Chancengerechtigkeit, die Tatsache, dass das Bildungsniveau der Eltern nach wie vor entscheidend ist für die Bildungschancen der Kinder. Dutzende Untersuchungen identifizieren darin das eigentliche Manko des deutschen Schulsystems. Und es trifft ausländische Kinder noch viel mehr.

    Schließlich haben ihre Eltern häufig ein niedrigeres Bildungsniveau als andere Eltern, schließlich wachsen die Kinder im Schnitt in eher einfachen Verhältnissen auf. „Die Schüler bekommen häufig von den Eltern nicht die Hilfe, die sie bräuchten“, sagt Cerna. Und dass es dabei keinen Unterschied mache, ob die Familie aus der Türkei oder aus Polen stamme.

    Bei Nursal Dede ist das anders. Er achtet darauf, dass der Sohn in der Schule gut vorankommt. Damals, als seine heute 24-jährige Tochter noch in die Schule ging, war er Klassenelternsprecher. Der Mann mit den breiten Schultern und den kräftigen Händen besucht als Ehrenamtlicher alte Menschen, die sonst niemanden mehr haben, macht Führungen in einer Augsburger Moschee. Der 50-Jährige, der als Zerspanungsmechaniker arbeitet, spricht leise und wählt seine Worte überlegt. Seit 40 Jahren lebt er in Deutschland. Trotzdem hört man seinen Akzent noch deutlich.

    Nursal Dedes Frau dagegen ist weit davon entfernt, fließend Deutsch zu sprechen. „Sie kann sich verständigen und versteht Deutsch auch, wenn man nicht zu schnell spricht“, sagt er. Vielleicht, meint er lachend, liege das auch ein bisschen am Dialekt im Freistaat. An der Mundart, die Bayerns neuer Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zu einem neuen Unterrichtsschwerpunkt machen will.

    Emre kann sich nicht daran erinnern, wie er Deutsch gelernt hat

    Manchmal macht Emre für seine Mutter den Dolmetscher. Für den 13-Jährigen mit dem pechschwarzen Haar und dem Flaum auf der Oberlippe ist Deutsch wie eine zweite Muttersprache. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich es jemals gelernt habe“, erzählt er. „Es war einfach in mir drin.“ Emre ist Deutscher, sein Pass bestätigt es. Auch sein Vater hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Zu Hause aber reden sie Türkisch.

    Emre, 13, hat gute Noten. Trotzdem kommt sein Vater Nursal Dede regelmäßg an die Mittelschule Gersthofen, um mit den Lehrern zu sprechen.
    Emre, 13, hat gute Noten. Trotzdem kommt sein Vater Nursal Dede regelmäßg an die Mittelschule Gersthofen, um mit den Lehrern zu sprechen. Foto: Wolfgang Diekamp

    Das ist bei vielen Familien mit ausländischen Wurzeln so. 80 Prozent der Migranten erster Generation – Familien also, in denen auch die Kinder im Ausland zur Welt gekommen sind – unterhalten sich daheim in ihrer Muttersprache. Das gilt auch noch für mehr als jedes zweite Kind, das in Deutschland geboren wurde.

    Würden alle Kinder auch im Unterricht so losplappern, wäre es an der Augsburger Grund- und Mittelschule im Viertel Centerville ein Durcheinander aus 28 Sprachen. Auch von den Schülern dort sprechen viele daheim ihre Muttersprache. Für Schulleiter Christoph Dietsche ist das kontraproduktiv. „Wenn Eltern mit ihren Kindern zu Hause nicht deutsch sprechen, ist auch der Spracherwerb der Kinder ein Problem.

    Einen vollen Ausgleich kann dann auch die Schule nicht liefern.“ Er könne „insgesamt betrachtet“ bestätigen, dass Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule schlechter abschneiden. „Das liegt aber daran, dass einzelne Gruppen unter diesen Kindern besonders schlecht sind – vor allem die, die noch nicht so lange in Deutschland sind.“ Die übrigen könnten durchaus mit deutschen Kindern mithalten.

    Es ist ja selbsterklärend: „Ein Kind, das vielleicht erst seit zwei Jahren da ist und auch erst seitdem Deutsch lernt, hat erst einmal natürlich auch in allen anderen Fächern Probleme“, sagt Dietsche. Seiner Erfahrung nach tun sich Kinder umso schwerer, je später sie im deutschen Schulsystem starten. Eine Einschätzung, der Pisa-Autorin Lucie Cerna zustimmt: „An deutschen Schulen ist Sprache ein wichtigerer Faktor als in anderen Ländern.“ Hinzu komme, dass die Entscheidung, welchen Schultyp ein Kind besucht, schon sehr früh erfolgt. „Für Schüler mit Migrationshintergrund wird es dann schwierig“, sagt Cerna.

    Im Iran bedeutet Unterricht: Lesen gelernt? Ja!

    Weiter hinzu komme, erklärt Rektor Dietsche, dass deren Eltern oft gar nicht wüssten, was das System Schule bedeutet. Er macht ihnen deswegen keinen Vorwurf: In ländlichen Bereichen des Iran oder Irak etwa bestehe die schulische Bildung oft darin, dass die Kinder einmal im Jahr für ein paar Wochen unterrichtet werden. Statt Noten heißt es dann vereinfacht: Lesen gelernt? Ja. Schreiben? Ja. „Wenn die Eltern auch noch selbst so ausgebildet wurden, ist es schwierig für sie, zu verstehen, wie notwendig eine gute Bildung ist.“

    Nursal Dede weiß sehr wohl, dass ein vernünftiges Zeugnis im Leben hilft. Sein Vater, ein Gastarbeiter, holte ihn mit zehn Jahren nach Deutschland. „In der Türkei war ich in der vierten Klasse, in Deutschland musste ich in der ersten wieder anfangen.“ Trotzdem hat er es geschafft, mehrere Halbjahre zu überspringen. Ausländische Kinder seien „deutlich motivierter“ als deutsche Schüler, heißt es auch in der Pisa-Auswertung. Trotzdem schnitten sie im Jahr 2016 in einem bundesweiten Bildungstest genauso schlecht ab wie fünf Jahre zuvor. Hat sich seither nichts getan?

    Nachfrage im bayerischen Kultusministerium: Seit 2011 habe man eine ganze Reihe an Angeboten neu ergriffen oder massiv ausgebaut, heißt es. Bis heute gibt es zum Beispiel 900 Vollzeitstellen zur Sprachförderung an Grund- und Mittelschulen. Klassen, in denen mehr als die Hälfte der Schüler aus anderen Ländern kommt, haben nie mehr als 25 Schüler. Und zehntausende Kinder, die erst jüngst mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen sind, lernen erst einmal Deutsch in speziellen Gruppen, bevor sie in reguläre Klassen kommen.

    Die Pisa-Autoren finden, dass noch mehr passieren muss. Dass es mehr Vorschulunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund braucht, mehr Sprachförderung schon für die Jüngsten. „Man muss die Kinder von klein auf unterstützen“, sagt Cerna. In der Schule könnten Sprachassistenten ihnen helfen – Mittler im Unterricht, solange die Kinder die Sprache nicht ausreichend beherrschen. Ein Modell, das es so in Schweden gibt. Lehrer wiederum bräuchten mehr Unterstützung und Training, um besser auf Multikulti-Klassen zu reagieren.

    „Kindern“, sagt hingegen der zweifache Vater Nursal Dede, „muss man Selbstvertrauen geben.“ Und Kinder müssten verstehen, dass es feste Regeln gibt. Wenn er das sagt, hört es sich so überzeugt an, als hätte er selbst jahrelang Forschungen dazu betrieben. In gewisser Weise hat er das auch. Der 50-Jährige trainiert ein Nachwuchs-Basketballteam. „Im Sport, oder einfach, wenn sie unter ihren Freunden sind, lernen Kinder am besten, sich in einer Kultur zurechtzufinden.“ Irgendwann klappt es dann auch in der Schule, davon ist er überzeugt.

    Sein Sohn Emre weiß inzwischen, was er werden will. Zerspanungsmechaniker wie sein Vater? Eher nicht, „da steht man den ganzen Tag und die Werkzeuge sind so schwer“. Ein Praktikum in der Kundenberatung habe ihm besser gefallen, sagt der 13-Jährige. Und „Marcus Gladiator“ hat er am Ende doch noch ganz gelesen, fand es sogar „echt interessant“. Sein Lieblingsfach wird Deutsch aber wohl trotzdem nicht mehr.

    In der aktuellen Folge unseres Podcasts "Bayern-Versteher" geht es ebenfalls um das Thema Schule. Was Eltern, Schüler und Lehrer derzeit bewegt, hören Sie hier:

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