
Nach tragischen Unglücken: Nehmen die Unfälle in den Bergen zu?

Plus Die Wandersaison wird überschattet von zahlreichen Unglücken. Ob es in diesem Jahr besonders schlimm ist und wie sich die Einsatzzahlen verändert haben.

Als stünden da zwei Hochhäuser aus Stein, grau und glatt, ganz nah beieinander. Die Wände streben senkrecht nach oben, dorthin, wo man das Blau des Himmels sehen kann. Und zwischen diese gewaltigen Felsen, in den schmalen Spalt, da wollen sie hin, die Kletterer, die Berg-Enthusiasten, die, die die Höhe lieben – und ein bisschen auch das Risiko. Peter Pfister ist einer von ihnen. Und er weiß, wie schnell die große Freiheit zur großen Gefahr werden kann.
Es ist ein warmer Sommertag, die Sonne scheint. Pfister ist mit einem Freund in der Zugspitzregion unterwegs. Er klettert den schmalen Spalt zwischen den Wänden nach oben, spreizt sich mit beiden Beinen zwischen die Felsen. Plötzlich rutscht sein Fuß ab, Pfister versucht, sich mit den Händen irgendwo festzuhalten. Dann kracht es. Drei Mal. „Meine Schulter war gesplittert und ausgekugelt“, erzählt der Kemptener. „Die Schmerzen waren furchtbar.“

Die beiden Kletterer haben ein Handy dabei und alarmieren die Bergwacht. Pfister holt seine Kamera heraus, schaltet den Blitz ein und sendet so immer wieder Lichtsignale, damit die Retter ihn finden können. Schließlich kommt der Hubschrauber, Pfister wird auf eine Wiese geflogen. Dort bekommt er eine Infusion. Dann sind die Erinnerungen weg. Als er wieder aufwacht, ist er im Krankenhaus in Innsbruck.
Der Unfall, von dem Pfister nun, in der Hochzeit der diesjährigen Wander- und Klettersaison, erzählt, ist schon einige Jahre her. Wäre er in diesem Jahr passiert, würde er sich einreihen in eine erschreckende Serie von Unglücken. Man kommt angesichts der Fülle der Vorfälle nicht umhin, sich zu fragen: Ist es in diesem Jahr besonders schlimm? Nimmt die Zahl der Unfälle in den Alpen zu? Und wenn das so ist: Warum eigentlich?
Ein Vater stürzt vor den Augen seiner Familie in den Tod
Zu den tragischen Meldungen, die diesen Bergsommer begleiten, gehören diese: Ein 38 Jahre alter Mann ist Ende Juli am mehr als 2000 Meter hohen Entschenkopf bei Oberstdorf unterwegs. Auf dem Weg zurück ins Tal stürzt er und fällt das felsige Steilgelände hinunter. Er stirbt. Kurz darauf verunglückt ein 75-jähriger Wanderer auf einem Gratweg im Naturpark Nagelfluhkette im Oberallgäu tödlich. Er verliert das Gleichgewicht und stürzt 60 Meter tief ab. Anfang August stirbt ein Vater vor den Augen seiner Frau und seiner kleinen, neunjährigen Tochter. Der bergerfahrene 54 Jahre alte Mann gerät mit seiner Familie in steiles, unwegsames Gelände. Er rutscht aus und stürzt über eine Felskante in den Tod. Wenige Tage später kommt ein 68-jähriger Mann bei einer Bergtour im Karwendelgebirge ums Leben. Als er den Klettersteig bereits verlassen hat, stürzt er 150 Meter ab. Die Retter können nur noch den Tod des Mannes feststellen.
Am vergangenen Freitag stirbt ein 30-jähriger Mann bei einem Absturz in der Watzmann-Ostwand. Auf rund 1700 Metern Höhe rutscht er an einem steilen, felsigen Abschnitt rund 150 Meter in die Tiefe. Und erst am vergangenen Sonntag verunglückt ein 29 Jahre alter Mann auf einem Klettersteig in den Ammergauer Alpen tödlich. Der Bergsteiger ist auf dem Tegelberg bei Schwangau unterwegs. Er hakt seinen Karabiner nicht am Drahtseil ein – und stürzt 40 Meter im freien Fall in die Tiefe.
Die Einsatzzahlen der Bergretter haben sich fast verdoppelt
Die Geschäftsstelle der Bergwacht Allgäu in Immenstadt. Peter Haberstock – orangefarbenes T-Shirt, kurze braune Haare – sitzt in einem nüchternen Besprechungsraum. Auch er hat in den vergangenen Wochen bemerkt, dass sich die Unfälle häufen. Der Geschäftsstellenleiter faltet die Hände vor sich auf der weißen Tischplatte, blickt durch das große Fenster hinaus auf den Parkplatz und die Bäume und sagt: „Ja, im Moment ist richtig viel los.“ Allerdings lägen die Unfallzahlen derzeit in etwa auf dem Niveau des Vorjahrs. Ein endgültiges Fazit über die aktuelle Wandersaison könne man erst im Herbst ziehen.
In den kommenden Wochen wird das Wetter eine entscheidende Rolle spielen. Wenn es im August und September viel regnet, dann könnten die Zahlen unter denen des Vorjahres liegen, erklärt Haberstock. Wenn es in den nächsten Wochen aber warm und sonnig bleibt, dann könnten die Unfallzahlen über denen von 2018 liegen. Denn es sei ja so: Je besser das Wetter, desto mehr Menschen zieht es hinaus in die Natur und hinauf in die Berge. Und mehr Menschen bedeuten auch mehr Unfälle. Was Haberstock aber sagen kann, ohne zu wissen, wie sich die aktuelle Sommersaison noch entwickeln wird, ist das: In den vergangenen zehn Jahren hat die Zahl der Unfälle in den Bergen dramatisch zugenommen.
Das hat man Schwarz auf Weiß, wenn man sich die Statistik der Bergwacht Bayern ansieht. Die Einsätze im Sommer sind von 1582 im Jahr 2006 auf 3071 im vergangenen Jahr gestiegen – das ist beinahe eine Verdoppelung. Die Zahl der sogenannten Einsätze mit Todesfolge ist nicht so stark gestiegen. Aber auch sie ist gewachsen, von 85 im Jahr 2006 auf 98 im Jahr 2018 _ diese Zahlen beziehen sich aber auf Sommer- und Wintereinsätze.
Wandern ist zu einer Trendsportart geworden
Der Grund dafür, dass es immer mehr Unfälle gibt, ist offensichtlich: Wandern ist zu einer Trendsportart geworden. Immer mehr Menschen sind in den bayerischen Alpen und den Mittelgebirgen unterwegs. Aus einer einst kleinen Bergsteiger-Schar, die sich der Einsamkeit der Berge hingab, ist inzwischen eine Massenbewegung geworden. Aus dem stillen Abenteuer von früher wurde eines für jedermann. Und ein Ende des Booms ist nicht abzusehen. Die Besucherzahlen steigen von Jahr zu Jahr. Zwischen 2003 und 2017 gab es in Bayern bei den Touristenankünften einen Zuwachs um 62 Prozent. Im selben Zeitraum erreichte das Allgäu sogar ein Plus von 95 Prozent.
Auch Peter Haberstock sagt: „Es gehen heute einfach viel mehr Menschen in die Berge als früher.“ Haberstock steht jetzt in der Garage der Bergwacht Immenstadt, in der er – neben seinem Job als Geschäftsstellenleiter der Allgäuer Bergwacht – seit Jahrzehnten als Retter aktiv ist. Neben ihm reichen die Regale bis zur Decke. Rucksäcke und Luftrettungsgurte lagern dort, Decken und Vakuum-Matratzen. Und Leichensäcke. Die Ausrüstung, die hier aufbewahrt wird, dient hauptsächlich zu Schulungszwecken. Die Ausbildung, die ein Bergretter absolvieren muss, ist umfangreich. Die künftigen Helfer müssen nicht nur die Standardnotfallversorgung lernen, sondern auch, wie man sich von einem Hubschrauber abseilt, einem Notarzt assistiert und Patienten im steilen Gelände sicher transportiert.
Wie man mit tragischen Todesfällen umgeht, ist indes nicht so leicht zu lehren. „Ich bin immer gut mit schlimmen Einsätzen klargekommen“, erzählt Haberstock, geht ein paar Schritte und bleibt dann neben einem Einsatzfahrzeug stehen. Es gebe aber auch Kollegen, die nach dramatischen Einsätzen vom Kriseninterventionsteam betreut werden müssten.
Haberstock ist seit 40 Jahren bei der Bergwacht – er weiß, wie schlimm die Einsätze sein können. Denn über die Jahre hat er viel gesehen. Leichen, die erst nach einigen Tagen aus einer Lawine ausgegraben wurden. Oder die menschlichen Überreste von Passagieren eines abgestürzten Sportflugzeugs.
So kann man das persönliche Risiko bei Wanderungen senken
Kann man Unfälle verhindern? Durch die richtige Ausrüstung, eine gute Planung? Trotz der besten Vorbereitung könne immer etwas passieren, sagt Haberstock. Dennoch gebe es schon ein paar Dinge, die man beachten sollte, um das persönliche Risiko zu minimieren. „Es wäre wichtig, dass die Menschen nur die Touren machen, die sie auch im Kreuz haben“, sagt er. Wenn ein Nicht-Kletterer in schwieriges Felsgelände gehe, dann sei das unvernünftig, sagt er.
Und wer keine Kondition hat, der sollte sich an keinen Acht-Stunden-Marsch wagen. „Es kommt immer wieder vor, dass sich Wanderer eine lange Tour vornehmen und bei der Hälfte merken, dass sie es nicht schaffen werden“, erzählt der Bergretter. „Wenn es dann dunkel wird und sie keine Taschenlampe dabei haben und nicht mehr weiterkommen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als Hilfe zu rufen.“ Selbstüberschätzung sei nicht der einzige Grund für einen Rettungseinsatz. Meist sei es einfach Pech. Etwa, wenn jemand unglücklich mit dem Fuß umknickt und dann einfach nicht mehr weitergehen kann.
Dass es einfach nicht mehr weitergeht, kennt Peter Pfister aus eigener leidvoller Erfahrung. Der Mann, der sich bei einer Tour die Schulter ausgekugelt hatte, könnte sich trotzdem niemals vorstellen, nicht mehr zu klettern. So oft es geht ist er in den Bergen unterwegs.
Brenzlige Situationen hat er immer wieder erlebt – und das stört ihn eigentlich auch gar nicht. „Ich habe mit dem Fallschirmspringen aufgehört, weil es mir zu langweilig war. Klettern hingegen ist eine Herausforderung.“
Gleich nach seinem Unfall, bei dem er mit einem Hubschrauber gerettet werden musste, war ihm diese Herausforderung aber zunächst zu groß. „Ich habe fast zwei Jahre gebraucht, bis ich wieder normal klettern konnte. Ich hatte einfach Angst“, erzählt der 52-Jährige. Heute sei das wieder anders, fährt er fort. „Man wird mit der Zeit abgebrühter und blendet vollkommen aus, dass man tödlich verunglücken könnte.“ Also wird er weitermachen. Wird weiter steile Berge hinaufsteigen und durch schmale Spalten klettern. Spalten zwischen grauen, glatten Felswänden, die aussehen wie gewaltige Hochhäuser aus Stein.
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