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Foto: Maurizio Gambarini, dpa (Archivfoto)
Foto: Maurizio Gambarini, dpa (Archivfoto)

Sekten versuchen, die Pandemie für sich auszunutzen.

Glaube
24.11.2021

Die Gefahr von Sekten in Corona-Zeiten: Wenn ein Heilsversprechen zum Unheil wird

Von Andreas Dengler

Plus Viele Menschen suchen Halt und Wahrheit. Seit Corona ist dieses Bedürfnis noch größer geworden. Zwei Sektenaussteigerinnen berichten von ihren Erfahrungen.

Der Markt für Weltanschauungen und Alternativmedizin boomt. Sekten, Heilerinnen und Seher bieten Antworten und versprechen Heil. Das Bedürfnis nach einer höheren Instanz sei essenziell, sagt Barbara Kohout aus Augsburg. „Vor allem in Krisenzeiten sehnt sich der Mensch danach.“ Eine Institution oder einen geistigen Führer brauche der Mensch aber nicht, ergänzt die 82-Jährige sofort. „Die da oben brauchen keine Vermittler.“

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Eine Aussteigerin warnt vor den Versprechen religiöser Gruppen

Barbara Kohout war fast ihr ganzes Leben lang eine überzeugte Zeugin Jehovas. Nach ihrem Austritt vor zehn Jahren begann sie ein neues Leben. Sie wurde eine wichtige Ansprechpartnerin für Aussteigerinnen und Aussteiger, schrieb Bücher, gründete eine Selbsthilfegruppe und warnt noch heute vor den Versprechen religiöser Gruppen.

Seit eine unsichtbare Bedrohung in Form eines Virus die Welt verändert hat, scheinen Halt und Heilversprechen, Wahrheit und Richtung noch mehr gefragt. Die Scientology-Kirche klärt über das Virus auf, die Zeugen Jehovas werten die Pandemie als Vorboten der Endzeit, Heilerinnen und spirituelle Führer bieten fragwürdige Praktiken, die angeblich vor einer Corona-Infektion schützen.

Vor ihrem Ausstieg glaubte Kohout an die Wahrheit der Zeugen Jehovas, befolgte die Regeln, erfüllte die Dienste und erzog gemeinsam mit ihrem Ehemann die drei Kinder nach der Moralvorstellung der Gemeinschaft. „Isolation und Angst öffnen Türen, durch die Gruppierungen bewusst gehen“, erklärt Kohout. Auch sie selbst suchte in ihrer aktiven Zeit den Kontakt zu Menschen, die sich in einer Extremsituation befanden. Sie wollte trösten, vor allem aber wollte sie die Hinterbliebenen missionieren und in die Gemeinschaft holen.

„Sekte ist ein Kampfbegriff, der mehr schadet als nutzt“

Für ihre Kirche wirbt Klaudia Hartmann nicht, wenn Menschen bei ihr Rat suchen. Die studierte Theologin und Pastoralreferentin leitet das Fachreferat für Religions- und Weltanschauungsfragen im Bistum Augsburg. Seit der Pandemie hilft Hartmann vor allem per Telefon oder Mail. Eigentlich sind sie und ihr Team nur für das Bistum zuständig, aber oft melden sich Menschen aus ganz Deutschland. Es ist noch nicht lange her, da hatte Hartmann eine Frau am Telefon, die schwer krank ist.

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Die verzweifelte Anruferin berichtete von einem Heiler, der ihr helfen kann. Billig werde das aber nicht. Es war ein Telefongespräch, wie es Hartmann schon oft in ihrem Beruf geführt hat. Leider werde meist nicht nur die Hoffnung der Kranken enttäuscht, sondern das Scheitern der sogenannten Therapie den Hilfesuchenden zugeschoben, erklärt Hartmann. Bei einem Misserfolg heißt es dann nur: „Du hast zu wenig an die Heilung geglaubt, deshalb bist Du nicht geheilt.“

Hartmann spricht ruhig und bedacht, ihre Worte wählt sie bewusst. Als die Beratungsstelle im Jahr 1984 gegründet wurde, sei zum Beispiel der Begriff Sekte noch wie selbstverständlich verwendet worden. Inzwischen ist das anders. „Sekte ist ein Kampfbegriff, der mehr schadet als nutzt“, erklärt Hartmann. Neureligiöse Gemeinschaft oder Bewegung sei die angemessenere Wortwahl. In Deutschland sind die meisten Beratungsstellen für Weltanschauungsfragen in der Trägerschaft der evangelischen und katholischen Kirche. Kritiker würden solche Stellen lieber in staatlicher Hand wissen. Dem stimmt Hartmann nicht zu: „Wer zu uns kommt, weiß von Anfang an, dass unsere Beratung auf christlichen Werten beruht.“

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Foto: Johann Teichreb
Foto: Johann Teichreb

Religiöse Anführer versprechen in schweren Zeiten Heil. Die Hilfesuchenden begeben sich in Abhängigkeiten. Welche Gefahr von religiösen Gemeinschaften ausgeht, zeigt Schauspielerin Luisa Bogenberger in ihrem Theaterstück.

In einer Zeit, in der die realen Treffen weniger und die digitalen mehr werden, ändert sich die Kontaktaufnahme der Gemeinschaften. Auf Dating-Plattformen und in sozialen Netzwerken werden während der Pandemie verstärkt potenzielle Mitglieder angeschrieben. Die analogen Wege werden aber weiter genutzt – zumindest ist das Kohouts Eindruck. Ein Fall in der Schweizer Stadt Biel gibt ihr recht. Dort erreichten ältere Menschen in einem Seniorenheim selbst gemalte Bilder von Kindern, die zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas gehören. Die Briefe wurden verschickt, als in der Einrichtung keine Besuche erlaubt waren.

 

Wie Gemeinschaften und spirituelle Führer gezielt junge Menschen erreichen, zeigt Luisa Bogenberger in ihrem Theaterstück „Die Gretchenfrage“. Die Hauptfigur Margaretha lebt in einer Religionsgemeinschaft, deren Anführer an einem Buch tüftelt, in dem alle Religionen und Weltanschauungen ineinander verschmelzen. Das Stück zeige die Dynamik und Gefahr, die eine Gemeinschaft mit sich bringen kann, betont sie. Das Theaterstück ist Bogenbergers Erstlingswerk. Kurz vor der Pandemie feierte es Premiere, inzwischen hat es die Schauspielerin und Autorin überarbeitet und ergänzt. „Ich will Margarethas Geschichte früher beginnen“, sagt sie.

Ein „Experimentierfeld für Beziehungen und Lebensfragen“

Nicht Margarethas, sondern Bogenbergers Geschichte beginnt Ende der 90er Jahre, als sich ihre Eltern der Schweizer Kirschblütengemeinschaft anschließen. Bogenberger stammt aus der Münchner Künstlerfamilie Fitz. Ihre Großmutter war die Schauspielerin Veronika Fitz und ihre Mutter ist Ariela Bogenberger, die ihren späteren Ausstieg aus der Kirschblüte in dem Dokumentarfilm „Aussteigen“ öffentlich machte.

Die Kirschblütengemeinschaft gilt als eine Lebens-, Arbeits- und Therapiegemeinschaft. Die zentrale Figur der Gruppierung war der Psychiater Samuel Widmer, der 2017 gestorben ist. Die Beratungsstelle Infosekta in Zürich charakterisiert die Kirschblüte als ein „Experimentierfeld für Beziehungen und Lebensfragen“. Ihr Umgang mit Drogen und Sex sorgte in der Vergangenheit immer wieder für Schlagzeilen.

"Ich habe nicht gelernt, Grenzen zu ziehen und auf mich aufzupassen"

Die langen Aufenthalte in Indien, die Besuche in der Schweiz oder die Meditationen und Seminare ihrer Eltern waren für Luisa Bogenberger und ihre zwei Geschwister normal. „Als Kinder haben wir uns nicht viel dabei gedacht“, sagt sie. Inzwischen ist ihr bewusst, in welchem Umfeld sie sozialisiert wurde. Gegen die Folgen kämpft sie bis heute. Ihr großes Glück sei es immer gewesen, dass sie nie ganz in der Gemeinschaft in der Schweiz gelebt hatte, sagt die 27-jährige Frau heute.

Oberbayern blieb all die Jahre ihre Heimat. Und trotzdem haben die 18 Jahre in der Gemeinschaft Spuren hinterlassen. „Ich habe nicht gelernt, Grenzen zu ziehen und auf mich aufzupassen“, sagt Bogenberger. Den Grund dafür sieht sie vor allem in ihrer Erziehung, die von den Vorstellungen der Gemeinschaft geprägt war. Mit dem Theaterstück will sie das Publikum vor religiösen Gruppierungen warnen.

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