
Kölner Missbrauchsgutachten: Ein Blick in Abgründe

Plus Zwei Gutachten zum Umgang Verantwortlicher im Erzbistum Köln mit Missbrauchsfällen zeichnen ein erschütterndes Bild. Warum das einer Münchner Kanzlei vermutlich unter Verschluss gehalten wurde.

Alles, was der Kölner Erzbischof sagt, wird in diesen Tagen aufmerksam verfolgt. Von Medienvertretern wie von Mitbrüdern, von Missbrauchsbetroffenen wie von Münchner Anwälten. Denn es war vor allem auch der Umgang von Rainer Maria Kardinal Woelki mit einem unabhängigen Gutachten zu den Missbrauchsfällen der vergangenen Jahrzehnte in seinem Erzbistum, der einen Sturm der Entrüstung entfachte und die katholische Kirche insgesamt in eine schwere Vertrauenskrise stürzte. Jenes Gutachten kam aus München, beauftragt damit war die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl.
Woelki nahm es wegen „methodischer Mängel“ und äußerungsrechtlicher Bedenken unter Verschluss. Nach eigenen Angaben hat er es nicht gelesen. Seinen Rechtsberatern folgend hält er es für unzulässig. Daher beauftragte er ein zweites, das sogenannte Gercke-Gutachten, das er kürzlich vorstellte. Ein Vorgehen, mit dem er auf breites Unverständnis stieß – allen voran bei der Münchner Kanzlei.
Worin sich Gercke-Gutachten und WSW-Gutachten unterscheiden
In einem Video auf der Internetseite seines Bistums erklärte Woelki nun, er wolle trotz teilweise gegensätzlicher Auffassungen mit möglichst vielen im Gespräch bleiben – die Münchner Anwälte dürfte er nicht gemeint haben. Zwischen denen und ihm herrscht dem Vernehmen nach Funkstille. Um die irdische Wahrheit müsse gerungen werden, sagte Woelki ebenfalls, die himmlische Wahrheit werde uns geschenkt. Dies werde an Ostern besonders deutlich.
Doch das Osterfest wird von den Vorgängen in Köln überschattet. Wie diesem: Dem Kölner Stadt-Anzeiger vom Mittwoch zufolge gab es am Dienstagabend einen Aufstand der Ehrenamtlichen gegen Woelki. Eine Runde mit mehr als 60 engagierten Katholiken habe ihn aufgefordert, den Weg für einen Neuanfang freizumachen.
Wer in die Abgründe der katholischen Kirche blicken will, hat dazu gerade reichlich Anschauungsmaterial – vor allem die beiden jeweils mehrere hundert Seiten langen Gutachten. Neben dem veröffentlichten Gercke-Gutachten ist das nach den Buchstaben der Münchner Kanzlei WSW-Gutachten genannte zumindest einsehbar. Zitiert werden darf, so zumindest die Rechtsauffassung des Erzbistums Köln, daraus nicht.
Die Gutachten bieten Einblick in die Abgründe der katholischen Kirche
Beide Gutachten haben Stärken und Schwächen, beide kommen zu ähnlichen Ergebnissen, was die Beschuldigten oder die Empfehlungen betrifft: eine deutliche Verbesserung der Aktenführung zum Beispiel oder eine Umgestaltung der Interventionsstelle. Das rein juristische Gercke-Gutachten, das auf Basis der vom Erzbistum Köln zur Verfügung gestellten, teils höchst lückenhaften Akten verfasst wurde, nennt 75 Pflichtverletzungen von acht lebenden und verstorbenen Verantwortungsträgern. Das WSW-Gutachten stellt 67 Pflichtverletzungen von sechs Verantwortungsträgern fest.

Der von Woelki wegen eines Verstoßes gegen die Aufklärungspflicht – zu seiner Zeit als Leiter der Hauptabteilung Seelsorge Personal – freigestellte Weihbischof Ansgar Puff kommt im WSW-Gutachten nicht vor. Rechtsanwalt Ulrich Wastl sagte auf Anfrage, man bejahe bei ihm eine „niederschwellige Pflichtwidrigkeit“. Das und der Umstand, dass es sich um einen Einzelfall gehandelt habe, habe dazu geführt, diesen Sachverhalt aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht mit in das zu veröffentlichende Gutachten aufzunehmen. Puff wird auch im Gercke-Gutachten nicht namentlich genannt.
Woelki selbst, der 2014 Kölner Erzbischof wurde, taucht im WSW-Gutachten am Rande auf – und das positiv. So habe er dafür gesorgt, dass Fälle, die schon vor seiner Amtszeit bekannt waren, noch an die Glaubenskongregation in Rom gemeldet wurden. Auch der Fall O., in dem das Gercke-Gutachten keine Pflichtverletzung Woelkis sieht, hat nicht Eingang ins WSW-Gutachten gefunden.
Missbrauchsgutachten: Woelkis Verhalten wird als Formalverstoß gewertet
Dazu sagte Wastl: „Wäre uns die Tatsache der engen Verbindung des Erzbischofs zu dem beschuldigten Pfarrer bekannt gewesen, hätten wir uns aller Voraussicht nach für eine Darstellung des Falls im zu veröffentlichenden Gutachten entschieden.“ Allerdings bewerte man Woelkis Verhalten als bloßen Formalverstoß, wenn auch „dem Grunde nach als pflichtwidrig“. Die Münchner Kanzlei betont seit Monaten, dass sie sich – im Unterschied zum Gercke-Gutachten – auf die Darstellung von 15 exemplarischen Fällen beschränkt, gleichwohl jedoch sämtliche andere ausgewertet und dokumentiert habe.
O., dem Woelki seit seiner Ausbildung zum Priester eng verbunden war, soll Ende der 70er Jahre ein Kindergartenkind schwer sexuell missbraucht haben. 2011 erfuhr Woelki, damals Kölner Weihbischof, nach seinen Angaben in „allgemeiner Form“ davon; später, als Kölner Erzbischof, veranlasste er aber weder eine kirchenrechtliche Voruntersuchung noch meldete er den Vorwurf nach Rom. Woelki begründete das mit dem schlechten Gesundheitszustand des mit ihm befreundeten Priesters.
Bleibt die Frage: Warum nahm er das WSW-Gutachten wirklich unter Verschluss? Eine Antwort darauf liegt mutmaßlich in den juristischen Auseinandersetzungen, die sich hochrangige Kirchenvertreter mit den Münchner Anwälten lieferten. Ein Kampf um Deutungshoheit und gegen Erinnerungslücken, ein Ringen um Wahrheit. Eine weitere Antwort hat mit der Auslegung des – gleichlautenden – Gutachtenauftrags zu tun.
Das sagen Missbrauchsopfer über die Gutachten
So beschränken sich der Kölner Strafrechtler Björn Gercke und sein Team auf die Aktenauswertung und die zusätzliche Befragung weniger Beschuldigter. Deren Verhalten wird maßgeblich an den zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden kirchenrechtlichen Vorgaben bemessen. Für das WSW-Gutachten wurden zudem die frühere Opfer- und der frühere Interventionsbeauftragte des Erzbistums befragt.
Der größte Unterschied besteht in der Ausarbeitung dessen, was im Auftrag mit „kirchlichem Selbstverständnis“ beschrieben ist, mit dem die Vorgehensweise Verantwortlicher abgeglichen werden sollte. Im Gercke-Gutachten umfasst dieser Punkt zwei Seiten. Kirchliches Selbstverständnis drücke sich im Katechismus aus und werde in der im Januar 2020 in Kraft getretenen Missbrauchsordnung zum Ausdruck gebracht, heißt es darin knapp.
Den WSW-Gutachtern ist das viel zu eng gefasst. Sie nehmen eher die Opferperspektive ein und sprechen bereits auf den ersten Seiten systemische Ursachen an – auch unter Bezug auf die von den Bischöfen vor wenigen Jahren in Auftrag gegebene „MHG-Studie“. Diese kam zu dem Ergebnis, dass die kirchlichen Strukturen – etwa klerikale Macht – Missbrauch begünstigen könnten. Die Münchner Anwälte verwenden eine unmissverständliche Sprache – im Gegensatz zum nüchternen Duktus bei Gercke. So nutzen sie Formulierungen wie „inakzeptables Unterfangen“ oder „mitbrüderfreundliche Reaktion“.
Münchner Kanzlei: Kirche stelle Täterschutz über Opferschutz
Wie das Gercke-Gutachten zeichnet auch ihres das Bild einer Institution, der Täter- vor Opferschutz ging; einer Institution, die Tätern in den eigenen Reihen barmherzig und Opfern mit Ignoranz begegnet sei. Ihre Bewertungen, die sie auf Grundlage der von ihnen als Tatsachen ausgemachten Sachverhalte vornahmen, verstehen die Münchner Anwälte als Kern ihrer Tätigkeit als unabhängige Gutachter. Ihr Vorwurf an das Gercke-Gutachten: Es leide „maßgeblich darunter, dass es gewissermaßen unter der Prämisse ’Recht ohne Moral’ erstellt wurde“.
Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz teilte in einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme zum Gercke-Gutachten diese Kritik. Auch angesichts des moralischen Selbstanspruchs der katholischen Kirche als „Moralagentur“, sei es nicht einsichtig, dass ethisch-moralische Verfehlungen und Pflichtverletzungen im Gercke-Gutachten nicht bewertet worden seien. Die Beschränkung auf eine rein strafrechtliche Betrachtung lasse „Zweifel an einem kirchlichen Willen zu einer umfassenden und grundlegenden Aufarbeitung aufkommen“. Die systemischen Ursachen für Missbrauch würden „weitestgehend ausgeblendet oder werden gar nicht betrachtet“. Das WSW-Gutachten dagegen benenne „klar missbrauchsbegünstigende Aspekte“.
Westpfahl Spilker Wastl arbeitet an einem neuen Gutachten - in dem Joseph Ratzinger eine Rolle spielen dürfte
Anders urteilte der Betroffenenbeirat des Erzbistums Köln am Montag. Das WSW-Gutachten sei in seiner Sprache emotionaler und „volkstümlicher“, doch darin liege die Krux. Denn im juristischen Sinn sei Emotionalität kein Kriterium für eine haltbare Aussage. Man sei froh, dass mit dem Gercke-Gutachten ein Gutachten erstellt wurde, das nicht wegen Rechtsstreitigkeiten gleich wieder kassiert werde, so der Kölner Betroffenenbeirat. Ob es dazu gekommen wäre, ist allerdings spekulativ.
Weil sich Mitglieder des Kölner Betroffenenbeirats von Woelki und dessen Generalvikar überrumpelt und instrumentalisiert fühlten, verließen sie das Gremium. In einer gemeinsamen Presseerklärung Woelkis und seines Betroffenenbeirats war Westpfahl Spilker Wastl die Zusammenarbeit aufgekündigt und der Kanzlei heftige Vorwürfe gemacht worden. Dies sei einvernehmlich entschieden worden – dabei kannten die Mitglieder des Gremiums das WSW-Gutachten damals gar nicht.

Fakt ist, dass Erkenntnisse beider Gutachten viele Menschen erschüttert haben – insbesondere die Rolle Joachim Kardinal Meisners, der einen separaten Aktenordner mit dem Titel „Brüder im Nebel“ geführt hatte. In beiden Gutachten wird er schwer belastet.
Mit Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI., dürfte bald eine weitere weltweit prägende Figur der katholischen Kirche im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Er war 1980 Erzbischof von München, als ein Kaplan des Bistums Essen, der den sexuellen Missbrauch von Jungen eingeräumt hatte, in eine Münchner Pfarrei versetzt wurde. Der Priester missbrauchte wieder Kinder. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx beauftragte die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl mit einem Gutachten für sein Erzbistum und kündigte an, es solle voraussichtlich im Sommer veröffentlicht werden.
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Die Diskussion ist geschlossen.
Das Geschehen im Bistum Köln kann nur aufgeklärt weden wenn Kardinal Woelki seinen Hut nimmt , Ihm der Stuhl vor die Tür gestellt wird oder der Schleudersitz betätigt wird . Es werden sündteure Gutachten erstellen lassen und weiter vertuscht und gelogen . Hätte der Kardinal nur ein wenig Anstand und Charakter hätte er schon lange seinen Rücktritt angeboten und den Weg frei gemacht für einen Neuanfang und lückenlose Auflärung .