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Ostallgäu: Hat ein Medikament die Gesundheit dieses Mannes ruiniert?

Ostallgäu

Hat ein Medikament die Gesundheit dieses Mannes ruiniert?

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    Und vor ihm liegt ein Schnuller: Die Familie mit Ehefrau Sandra und seinen drei Kindern ist alles für Andre Sommer aus Pfronten.
    Und vor ihm liegt ein Schnuller: Die Familie mit Ehefrau Sandra und seinen drei Kindern ist alles für Andre Sommer aus Pfronten. Foto: Ralf Lienert

    Hannes hat sein erstes Tor für den Eishockey-Verein geschossen. Ein großer Moment für den Siebenjährigen. Und Nina hatte Geburtstag. Wer vier war und jetzt fünf ist, hat definitiv auch was Großes erlebt. Deshalb hängen so viele Glückwünsche und Fotos an der Schnur, die die Sommers quer durch die Stube gezogen haben. Muss spannend sein für Jule, Kind Nummer drei, zarte sieben Monate alt, wenn sie im Laufstall sitzt und über ihr baumelt und raschelt es nur so. Dieser Raum, ach was, das ganze Haus ist voller Kinderleben; Andre Sommer wirkt richtig gerührt, wenn er davon erzählt. Und dann sagt: „Wenn meine Mama wüsste…“

    Seine Mama liegt seit 2001 im Wachkoma. Sie weiß nicht, dass ihr Sohn drei Kinder hat. Sie weiß nicht, wie sie entstanden sind. „Wenn meine Mama wüsste“, sagt Sommer also, „dass sie auf natürlichem Weg gezeugt wurden…“ Das war so unsicher, wie etwas nur unsicher sein kann – nach dieser Vorgeschichte, nach allem, was über Andre Sommer hereingebrochen ist. Das ist ja der Grund, warum sich die Mama Vorwürfe gemacht hat.

    Andre Sommer, Grundschullehrer aus Pfronten im Ostallgäu, ein sportlicher Typ mit Jeans und Kapuzenpullover, sitzt auf der Eckbank. Vor ihm: sein Laptop, ein Stapel Papier – Zeitungsberichte, Studien, sein Indizienkatalog, wenn man so will. Ehefrau Sandra ist gerade mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren, so hat er Zeit, seine Geschichte zu erzählen.

    Sommer kam vor 41 Jahren mit massiven Fehlbildungen zur Welt. Seine Blase lag außerhalb des Körpers, die Genitalien waren deformiert. Die ersten vier Lebensjahre verbrachte er zur Hälfte in Krankenhäusern. Bis heute musste er sich 15 großen Operationen unterziehen. Narkose, Schmerzen, Heilung, wieder Narkose – ein quälender Kreislauf. Er lebt mit einem künstlichen Blasenausgang. Der Beutel, der seinen Urin auffängt, ist so flach, unter seinem Pullover ist er nicht mal zu erahnen. Mehrfach hat unsere Zeitung über seinen Fall berichtet.

    Wie geht es Ihnen heute?

    Gut. Aber ich merke, dass der Körper verschleißt. Und niemand weiß, wie lange die Nieren mitmachen.

    Macht Ihnen das Angst?

    Ich verdränge es.

    Gab es kritische Zeiten?

    2013 hatte ich fast einen Darmverschluss. Das war eine schwierige Zeit. Da ging es mir schlecht.

    Natürlich war da immer die Frage: Warum ich? Zufall, Schicksal, eine Laune der Natur? So etwas trifft einen von 50000 Menschen. Also doch Schicksal?

    Alle Opfer hatten einen gemeinsamen Hintergrund

    2009 reichte ihm das nicht mehr als Erklärung. Andre Sommer begann nachzuforschen. Er studierte seine Krankenakte, durchkämmte das Internet, fand Menschen mit ähnlichen Erfahrungen. Aber was heißt ähnlich: Manche waren mit einem offenen Rücken zur Welt gekommen, manche mit deformierten Gliedmaßen oder schweren Herzfehlern, einige sind daran gestorben. Und dann gab es Leute wie Andre Sommer. Eine Gemeinsamkeit aber hatten alle: Ihre Mütter hatten während der Schwangerschaft das Medikament Duogynon eingenommen – oder Primodos, wie es in Großbritannien hieß. Auch Sommers Mama.

    Das Hormonpräparat Duogynon war in Europa weitverbreitet, unter anderem, um Schwangerschaften festzustellen. Anbieter war die Firma Schering, die 2006 im Bayer-Konzern aufging. In Deutschland wurde Duogynon Anfang der 1980er Jahre vom Markt genommen. Zu dem Zeitpunkt gab es längst kritische Hinweise aus dem Ausland, wonach ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen der Einnahme des Medikaments und Fehlbildungen bei Säuglingen. In Berlin ermittelte die Justiz. Doch das Verfahren wurde eingestellt.

    All das musste sich Andre Sommer erst anlesen, als er mit seinen Nachforschungen begann. Trotzdem nahm er den Kampf gegen Bayer auf. Gemeinsam mit seinem Anwalt Jörg Heynemann zog er zweimal vor Gericht. Beide Male verlor er – wegen Verjährung. Zur Schuldfrage kam es erst gar nicht.

    Doch er gab nicht auf. Leidensgenossen machten ihm Mut. Heute sind rund 600 von ihnen in einem Netzwerk organisiert, das Sommer koordiniert. Insgesamt sollen in Deutschland etwa 1000 Menschen betroffen sein. Immer wieder keimte Hoffnung auf, dass es eine Erklärung gibt. Wenn Reporter Zeugen ausfindig machten, die in Zusammenhang mit möglichen Risiken von Duogynon Absprachen zwischen einem Schering-Mitarbeiter und dem damaligen Bundesgesundheitsamt offenbarten. Oder im Berliner Landesarchiv Akten auftauchten, die diesen Vorwurf erhärteten und nahelegten, dass der Konzern schon in den 60er Jahren von den Risiken des Präparats wusste.

    Jedes Mal aber folgte eine Enttäuschung. Die neuen Indizien hatten keine Konsequenzen, es war ja alles verjährt. Und Bayer als Rechtsnachfolger von Schering argumentierte: Es habe Untersuchungen in den 70er und 80er Jahren gegeben, die keine Hinweise auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und Fehlbildungen ergeben hätten. Dies hätten Gerichtsverfahren bestätigt, hieß es auf Anfrage unserer Zeitung.

    Andre Sommer wühlt das Gespräch auf. Statt weiterzuerzählen, schluckt er. Und noch einmal.

    Zermürbt Sie dieser Kampf nicht?

    Ich war nahe dran, dass ich sage: Es geht nicht mehr weiter.

    Warum haben Sie weitergemacht?

    Es haben mir so viele Menschen geschrieben, denen es noch schlechter geht, die keinen Job haben, keinen Freundeskreis. Ich habe Arbeit. Und ich habe eine Frau und drei Kinder.

    Was treibt Sie an?

    Erst wollte ich nur Aufklärung. Heute geht es auch um die Anerkennung von Schuld. Ja, ich will eine Entschuldigung. Und ich will für mich und alle Betroffenen eine Entschädigung.

    Nun macht er sich Hoffnung. Wieder einmal. „Sie hat eine neue Qualität“, sagt Sommer. Und einen Namen: Marie Lyon. Die 71-Jährige arbeitet mehr denn je, seit sie in Rente ist. Als Vorsitzende einer britischen Vereinigung von Primodos-Opfern kämpft sie seit Jahren für Gerechtigkeit, wie sie sagt. „Wir müssen endlich ein Schuldeingeständnis bekommen.“

    Ein zweifelhaftes Erinnerungsstück: Die Mutter von Andre Sommer hat 1975 das umstrittene Hormonpräparat Duogynon eingenommen.
    Ein zweifelhaftes Erinnerungsstück: Die Mutter von Andre Sommer hat 1975 das umstrittene Hormonpräparat Duogynon eingenommen. Foto: Andre Sommer

    Ist das endlich der Durchbruch?

    Marie Lyon kennt Andre Sommer gut. Er hat sie auf das Landesarchiv in Berlin aufmerksam gemacht. Mit einem Team des Senders Sky News, der eine aufsehenerregende Dokumentation über die Vorgänge drehte, durchforstete sie 2016 rund 7000 Dokumente – Seite für Seite, Wort für Wort. „Sie zeigen eine Absprache zwischen der damaligen deutschen Regierung, den britischen Behörden und Schering“, sagt Lyon. Die deutschen Behörden seien sich der Wirkung des Medikaments auf schwangere Frauen bewusst gewesen. Ein Durchbruch für die Opfergruppe? In England gelten schließlich andere Verjährungsfristen.

    Lyon und ihre Mitstreiter wandten sich mit den neuen Informationen ans britische Parlament. Gleichzeitig kam ein von der Regierung in London eingesetztes Expertengremium aus Medizinern, Gesundheitspolitikern und Biologen Ende 2017 zu dem Ergebnis, dass das Präparat nicht verantwortlich für die Fehlbildungen sei. „Wir bestreiten das“, sagt Lyon – eine von rund 1,5 Millionen Frauen, die in Großbritannien Primodos verschrieben bekommen haben. „Der Bericht ist eine einzige Vertuschung und hat wichtige Beweise ignoriert.“

    Seit Monaten fährt sie teilweise mehrmals pro Woche aus ihrer nordenglischen Heimatstadt Wigan in die Metropole, besucht einen Abgeordneten nach dem anderen, erzählt ihre Geschichte und die von all den anderen Kindern, die mit Fehlbildungen geboren wurden. Lyon sagt, sie habe Glück gehabt – obwohl sie vor fast 50 Jahren auf Rat ihres Arztes zwei Pillen Primodos einnahm, um ihre Schwangerschaft festzustellen. Tochter Sarah, heute 48, kam mit einem missgebildeten Arm zur Welt, sei aber immer eine „Kämpferin“ gewesen. Sie fährt Auto und geht gerne reiten. „Aber so viele Menschen haben nie das Leben geführt, das sie hätten führen sollen.“ Für sie kämpft Marie Lyon, bis zu zwölf Stunden am Tag.

    Mittlerweile wird die Opfergruppe von fast 130 Abgeordneten unterstützt. Der Druck zeigt Wirkung. Im Februar ordnete Premierministerin Theresa May eine Überprüfung der Vorgänge im „Primodos-Skandal“ an. Der Report von 2017 wurde zurückgezogen. Während einer Fragestunde im Parlament sagte May, sie sei betroffen von den „schlagkräftigen Geschichten“ der Aktivisten, die „ein Problem mit unserem Behörden- und Gesundheitssystem“ aufzeigen. „Bei mir herrscht große Erleichterung“, sagt Lyon. Nun will sie vor allem erreichen, dass für die Überprüfung des Berichts unabhängige Experten eingesetzt werden. Bis heute findet sie es „seltsam“, dass die deutsche Politik keine aktivere Rolle spielt.

    Hoffnung macht den Aktivisten eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Schottland, die ebenfalls Zweifel an dem Report streut. Dieser hatte noch betont, dass „die begutachteten wissenschaftlichen Daten nicht auf einen kausalen Zusammenhang zwischen der Verwendung von Primodos und Geburtsfehlern“ hinweise. Professor Neil Vargesson von der Universität Aberdeen kommt dagegen zu dem Schluss, dass hormonelle Schwangerschaftstests eben doch zu Fehlbildungen bei Embryos führen können. Er und sein Team testeten den Duogynon/Primodos-Wirkstoff bei Zebrafisch-Embryonen auf seine fruchtschädigende Wirkung. Tatsächlich litten die Embryonen unter einer ganzen Reihe von Deformationen – verkürzten Fischschwänzen und Flossen sowie Sehdefekten. Um letztendliche Aussagen treffen zu können, gerade was die Übertragung der Ergebnisse auf Menschen betrifft, seien aber noch weitere Untersuchungen nötig, sagt Vargesson.

    Er macht weiter - solange die Familie mitmacht

    Was heißt das nun für Andre Sommer und die anderen Deutschen, die sich als Opfer von Duogynon sehen? Das Bundesgesundheitsministerium hat im April 2017 Sommers Anwalt Heynemann geschrieben, die Bundesregierung werde „den Abschlussbericht der Expertenkommission in Großbritannien, sobald er vorliegt, einer Bewertung unterziehen“. Darauf wartet Sommer nun. Er hat Kontakt zu Politikern im Bundestag aufgenommen, die im Gesundheitsausschuss Druck erzeugen sollen. Zwei Petitionen stehen aus. Und es gebe die Möglichkeit einer Amtshaftungsklage. „Schließlich hat das damalige Bundesgesundheitsamt versagt.“

    Ein Bayer-Sprecher teilt auf Anfrage unserer Zeitung schriftlich mit, man schließe Duogynon nach wie vor als Ursache für embryonale Missbildungen aus. Er verweist auf die Studien der 70er und 80er Jahre und sagt: „Es sind keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt, die die Gültigkeit der damaligen Bewertung infrage stellen würden.“ Was die Entwicklung in Großbritannien betrifft, bezieht der Sprecher nur Stellung zum Report des Expertengremiums. Dieses habe „keinen kausalen Zusammenhang“ zwischen der Verwendung hormoneller Schwangerschaftstests und Missbildungen feststellen können. Auf die Frage, ob Bayer das Gespräch mit deutschen Patienten suche, geht der Sprecher nicht ein.

    Sommers Traum ist eine Stiftung, ein Geldtopf, aus dem Betroffene eine Entschädigung erhalten. So, wie dies für Contergan-Geschädigte geregelt wurde. Dafür kämpft er.

    Wie lange kämpfen Sie weiter?

    Solange ich die Unterstützung meiner Familie habe.

    Und wann ist der Punkt erreicht, dass es nicht mehr geht?

    Wenn ich sehe, dass die Familie kaputt geht. Dass die Sache uns auffrisst.

    So weit ist es noch nicht.

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