
Er kämpft dagegen an, dass Pflegekinder kaum Gehalt behalten dürfen

Plus Siegfried Reinelt ist Pflegevater. Er will sich nicht damit abfinden, dass sein Pflegesohn den Großteil des Gehalts an das Jugendamt abgeben soll.

Siegfried Reinelt kämpft. Seit Monaten. Seit er von dieser ungeheuerlichen Sache erfahren hat. Diesen Kampf ficht er allerdings nicht für sich aus. Sondern für zehntausende Kinder und Jugendlichen. Und für sein sieben Jahre altes Pflegekind, das gerade durch den Garten tollt und Schmetterlingen hinterherrennt.
Briefe an Franziska Giffey und Kerstin Schreyer
Reinelt – kurze Haare, weißes T-Shirt, randlose Brille – sitzt auf seiner Terrasse in Altenmünster im Landkreis Augsburg. Es ist ein warmer Sommerabend, die pinkfarbenen Rosen, die im Garten blühen, leuchten in der Sonne. Auf dem Tisch vor Reinelt liegen die Briefe, die er in den vergangenen Wochen geschrieben hat. Und zwar nicht an irgendwen – sondern an Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und ihre bayerische Amtskollegin Kerstin Schreyer. Reinelts Ziel: Er will erreichen, dass die umstrittene 75-Prozent-Regel endlich gekippt wird.
Und darum geht es: Jugendliche, die in Deutschland in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht sind, müssen in der Regel 75 Prozent ihres Ausbildungsgehalts an das Jugendamt abgeben. Vergangene Woche hatten wir über einen jungen Mann aus einem Heim in der Nähe von Augsburg berichtet, der wegen dieser Regelung nur einen umgerechneten Stundenlohn von 1,20 Euro bekommt. Die Resonanz auf den Artikel war gewaltig.
Die Menschen reagierten fassungslos – und einige boten ihre Hilfe an. Eine Frau etwa möchte dem Auszubildenden zehn Fahrstunden bezahlen, eine andere könnte sich vorstellen, ihm mit einer monatlichen Finanzspritze unter die Arme zu greifen.
Auch Flüchtlinge müssen zahlen
Durch die sozialen Netzwerke geisterte das Vorurteil, dass junge Flüchtlinge im Gegensatz zu deutschen Jugendlichen kein Geld ans Jugendamt zahlen müssten. Allerdings ist die Sachlage eine andere: Minderjährige unbegleitete Ausländer, die in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht sind, unterliegen nach Angaben des bayerischen Sozialministeriums ebenfalls der Regelung.
Die sogenannte Kostenheranziehung ist nicht neu. Sie gilt seit Jahrzehnten. Und schon seit Längerem wird in Berlin darüber debattiert, den Prozentsatz zu senken. Eine Verminderung des Umfangs auf 50 Prozent war bereits Gegenstand eines Gesetzentwurfes. Der Bundestag hatte das Gesetz auch beschlossen – im Bundesrat ist der Änderungsversuch dann aber liegen geblieben. Dabei gibt es immer mehr Betroffene. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in einer Pflegefamilie untergebracht sind, ist massiv gestiegen – von gut 60.000 im Jahr 2008 auf mehr als 81.000 im Jahr 2017. Und die Jugendämter suchen verzweifelt nach Menschen, die bereit sind, ein Kind aufzunehmen.
So wie die Reinelts aus Altenmünster. Das Ehepaar hat eigene Kinder, die längst erwachsen sind. Warum sie sich dafür entschieden haben, ein Pflegekind großzuziehen? „Wir wollten einem Kind eine schöne Kindheit bieten“, sagt Reinelt. Mit zehn Monaten kam der Junge in sein neues Zuhause. Mittlerweile geht er in die Schule. Und mit jedem Jahr, das er älter wird, fragt sich sein Pflegevater, ob die 75-Prozent-Regelung wohl noch immer gelten wird, wenn der Bub einmal eine Ausbildung macht.
Auch das Bafög müssen Pflegekinder abgeben
Sollte es so sein, dann will er ihm monatlich 200 Euro von den 1000 Euro Pflegegeld abgeben. „Damit er nicht benachteiligt ist“, sagt Reinelt. Außerdem würden sie schon jetzt für ihn Geld zur Seite legen, damit er mit 18 Jahren seinen Führerschein machen kann.
Die Sache mit dem Ausbildungsgehalt ist nicht das einzige, das Reinelt nicht nachvollziehen kann. Sollte sein Pflegesohn eine weiterführende Schule besuchen, müsste Reinelt für ihn Bafög beantragen – und das müsste dann komplett ans Jugendamt abgegeben werden. „Und wenn man keinen Antrag stellt, dann wird geschätzt, was man bekommen könnte. Und das wird dann automatisch vom Pflegegeld abgezogen“, erklärt der 59-Jährige und schüttelt den Kopf.
Reinelt kann nicht verstehen, warum in Deutschland mit Heim- und Pflegekindern so umgegangen wird. „Was ist denn das für eine Motivation, sich eine Arbeit zu suchen? Man müsste diese Regelung abschaffen.“ Mit dieser Meinung ist er nicht alleine. Auch die Augsburger SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr spricht sich für eine Streichung der Kostenheranziehung aus. Seit Ende 2018 laufe im Bundesfamilienministerium ein Verfahren zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, berichtet Bahr. Jugendhilfeverbände, Behindertenhilfe, Kinderärzte, Bund, Länder und Kommunen diskutieren dabei zu vier großen Themenblöcken den Veränderungsbedarf in der Gesetzgebung.
Bahr ist als Vertreterin der SPD-Bundestagsfraktion beteiligt. In der Debatte hätten sich auch der Deutsche Bundesjugendring und Vertreter der Freien Wohlfahrtspflege für die Abschaffung ausgesprochen, sagt Bahr. „Ich setze darauf, dass sich im nächsten Jahr, wenn der Gesetzentwurf vorliegt, alle auf die Abschaffung der Kostenheranziehung einigen können.“
Siegfried Reinelt wirkt resigniert
Was ist eigentlich mit den Briefen geschehen, die Pflegevater Reinelt geschrieben hat? Die Bundesfamilienministerin hat nicht geantwortet. Vom bayerischen Familienministerium indes kam ein Schreiben zurück. Darin steht: Von einer Schlechterstellung von Pflegekindern gegenüber Kindern, die mit ihren leiblichen Eltern zusammenleben, könne nicht gesprochen werden. „Vielmehr entspricht es der Lebensrealität vieler Durchschnittsfamilien in Deutschland, dass Kinder mit eigenem Einkommen einen Beitrag zu ihrem eigenen Lebensunterhalt leisten.“ Reinelt ist mit der Antwort nicht zufrieden. Er wirkt ein wenig resigniert, als er sagt: „Ich habe auch nichts anderes erwartet.“
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