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Tiere: Warum Bayern ein großes Katzenproblem hat

Tiere

Warum Bayern ein großes Katzenproblem hat

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    Nachts, wenn alles schläft, streunen sie besonders gerne umher, die wilden bayerischen Katzen. Fakt ist aber: Es gibt einfach zu viele.
    Nachts, wenn alles schläft, streunen sie besonders gerne umher, die wilden bayerischen Katzen. Fakt ist aber: Es gibt einfach zu viele. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Unter der orange-braunen Wolldecke regt sich was. Vier pechschwarze Kätzchen spitzeln unter dem flauschigen Stoff hervor und blinzeln müde in die Sonnenstrahlen, die durch die Fensterscheibe in das kleine, weiß geflieste Zimmer fallen. Eng aneinander gekuschelt liegen die Tierbabys da, schließen dann wieder die Augen und dösen einem sommerwarmen Nachmittag entgegen. Die Katzenkinder leben seit wenigen Tagen im Nördlinger Tierheim. Gerade einmal drei Wochen sind sie alt. Sie wurden auf der Straße gefunden, mutterseelenallein und in einem verheerenden Zustand, mit verklebten Augen und struppigem Fell. Diese vier Kätzchen sind, wenn man so will, symbolisch für ein ziemlich großes Problem.

    Ein Problem, das auf weichen Samtpfoten durch den Freistaat schleicht, in Gärten und Scheunen haust, über Wiesen und Äcker streicht, durch Städte und über einsame Dorffeldwege wandert. Eines, das Tierschützer in Rage bringt, dem man vielerorts hilflos gegenübersteht. Und bei dem man sich fragt: Warum kriegt man es nicht in den Griff?

    Die Misere ist die: In Bayern leben unzählige streunende Katzen. Wie viele es genau sind und woher sie kommen, weiß man nicht, weil es keine offiziellen Statistiken gibt. Aber die Zahl, die der Landestierschutzbund gerade genannt hat, klingt erschreckend. Von bis zu einer Million wild lebender Katzen ist die Rede. Und von schlimmen Folgen. Die Tiere verwahrlosen. Krankheiten breiten sich aus. Die Zahl der Vögel sinkt, weil sie von den Katzen gejagt werden.

    In den meisten Fällen haben die Besitzer die Tiere ausgesetzt, glaubt Andreas Brucker, Geschäftsstellenleiter des Landestierschutzbundes mit Sitz in Rottenbuch im Landkreis Weilheim-Schongau. Sobald die Tierschützer eine streunende Katze gefangen haben, kommt sie ins Tierheim, wird durch einen Chip oder eine Tätowierung registriert und anschließend kastriert oder sterilisiert – in der Hoffnung, dass das Tier an einen neuen Besitzer vermittelt werden kann.

    Im Tierheim sagt die Chefin: Langsam wird es eng

    Im Tierheim von Nördlingen leben derzeit 79 Katzen. Rot und getigert, weiß und schwarz sind die Tiere, die sich ganz nah an die Gitterstäbe drücken, sich an die fremden Hände schmiegen, die über das weiche Fell der Tiere streichen, ihnen den Kopf kraulen. Eine Kindergruppe ist an diesem Nachmittag zu Besuch, um etwas über die Arbeit im Tierheim zu lernen und ein bisschen mit den Miezen zu schmusen.

    Und vielleicht kommen sie eines Tages wieder, um eines der Tiere abzuholen und mit nach Hause zu nehmen. Das wünscht sich zumindest Manuela Kaußen, die Leiterin der Einrichtung. „Platzmäßig wird es langsam eng“, sagt sie. Kaußen, kurze blonde Haare, Blumen-Tattoos auf den Unterarmen, sitzt auf einer Holzbank in der Sonne und nippt an ihrem Kaffee. Dann schlägt sie einen dicken Aktenordner auf und lässt die einzelnen Seiten wie ein Daumenkino über ihre Finger hüpfen. „Wir hatten 227 Fundkatzen in einem halben Jahr“, sagt sie. „Die allermeisten sind Streuner.“ Nur ein einziges Tier konnte zu seinem Besitzer zurück. Wem die anderen gehören, ob sie überhaupt ein Zuhause haben, wer weiß das schon?

    Der Großteil der Tiere ist weder gechippt noch kastriert. Darum und um die Entwurmung und Impfung kümmert sich das Tierheim. Die Kosten trägt der Tierschutzverein. Danach sollen die Katzen weitervermittelt werden. Nur: Ganz so einfach ist das nicht. Katzen, die jahrelang auf der Straße gelebt haben, sind oft so wild, dass sie sich nurmehr schwer an den Menschen gewöhnen können. Die Chance, für diese Tiere eine neue Familie zu finden, ist verschwindend gering. Es sind aber nicht nur diese Problemfälle, deretwegen das Tierheim ständig ausgebucht ist. Man muss kein Mathegenie sein, um zu sehen, dass die Rechnung ganz grundsätzlich nicht aufgeht: Etwa 40 Katzen werden jeden Monat im Nördlinger Tierheim abgegeben. Nur 15 werden im selben Zeitraum an ein neues Herrchen oder Frauchen vermittelt.

    Streunende Katzen sind nicht das einzige Problem

    Manuela Kaußen trinkt ihren Kaffee aus und stellt die Tasse vor sich auf dem Holztisch ab. Wenn man sie fragt, was geschehen müsse, um die immens hohe Zahl an Streuner-Katzen zu verringern, muss sie nicht lange nachdenken: „Wer eine Freigänger-Katze hat, sollte verpflichtet sein, sie zu kastrieren.“ Denn das Problem sind nicht nur die vielen herrenlosen Streuner, die sich extrem vermehren, sondern auch Freigänger, die sich mit den verwilderten Tieren paaren. Vielen Katzenhaltern ist das allerdings egal. Weil ihnen eine Kastration, die im Schnitt zwischen 60 und 100 Euro kostet, zu teuer ist, verzichten sie darauf. „Viele Tierhalter sind einfach unvernünftig. Die Politik sollte da endlich einen Riegel vorschieben“, findet Kaußen.

    Manuela Kaußen, Leiterin des Tierheims in Nördlingen, mit zwei Katzenbabys.
    Manuela Kaußen, Leiterin des Tierheims in Nördlingen, mit zwei Katzenbabys. Foto: Stephanie Sartor

    Rechtlich sieht die Sache momentan so aus: Im Tierschutzgesetz ist die Möglichkeit der Länder verankert, Maßnahmen zur Verminderung der Zahl frei lebender Katzen zu treffen. Im Freistaat sind nach Angaben des bayerischen Umweltministeriums die Kreisverwaltungsbehörden zuständig. „Vor Ort kann am besten beurteilt werden, ob Maßnahmen wie die Kastration oder das Verbot unkontrollierten freien Auslaufs erforderlich sind“, teilt ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage mit. Im Fall von Nördlingen wäre dies also das Landratsamt Donau-Ries. Dort allerdings will man keine Stellung nehmen und verweist auf die Zuständigkeit der Städte und Gemeinden.

    Im betroffenen Rathaus heißt es nun, „dass die Stadt Nördlingen keine Maßnahmen und Regelungen zum ,Problembereich streunende Katzen‘ getroffen hat.“ Und weiter: „Verschiedentlich erreichen uns Beschwerden von Anwohnern und Bürgern über streunende Katzen, die an leer stehenden Hofstellen oder einigen Plätzen im Stadtbereich anzutreffen sind.“ Dankenswerterweise gebe es Ehrenamtliche, die sich um die verwilderten Tiere kümmerten. Von der Stadt Nördlingen bekommt der Tierschutzverein einen geringen Teil der Hundesteuer, andere Kommunen haben die Möglichkeit, für 25 Cent pro Einwohner Mitglied im Verein zu werden – nicht alle machen das aber.

    Das Tierheim erhält nach Angaben des Tierschutzvereins keine zusätzliche finanzielle Unterstützung von den Kommunen. Und auch nicht vom Freistaat. Bayern sei das einzige Bundesland, das im Haushalt keine Mittel zur Unterstützung der Tierheime bereitstelle, beklagt der Landestierschutzbund und hat deshalb für kommenden Donnerstag zu einer Protestkundgebung vor der Staatskanzlei in München aufgerufen.

    Auch im Fall der streunenden Katzen greifen andere Bundesländer offenbar viel härter durch. So haben viele Kommunen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bereits eine Kastrations- und Kennzeichnungspflicht in der Kommunalverordnung verankert. Die Stadt Paderborn war 2008 die erste Kommune in Deutschland, die eine solch kombinierte Regelung für Katzenbesitzer eingeführt hat. Wer sich nicht daran hält, riskiert ein Bußgeld.

    Wulf-Dietrich Kavasch hat sich in den vergangenen Jahren viele Gedanken über das Katzen-Dilemma gemacht. Der 74-Jährige ist seit 30 Jahren Vorsitzender des Tierschutzvereins Nördlingen und arbeitete Jahrzehnte lang als Tierarzt. Kavasch sitzt in seinem Esszimmer im ehemaligen Schulhaus in Hohenaltheim. Auf dem Tisch steht eine Vase mit pinkfarbenen Rosen, auf dem Boden döst Hund Moppel. Kavasch spricht langsam, wählt seine Worte mit Bedacht und faltet, während er redet, die Hände vor sich auf dem Tisch. „Von amtlicher Seite passiert gar nichts“, klagt er. Schon seit vielen Jahren sei die enorme Katzenpopulation im Ries ein bekanntes Problem – verbessert habe sich die Situation aber trotzdem nicht. Dabei könne man ja etwas tun.

    Gegen die enorme Katzenpopulation hilft Kastration

    Die Kastration möglichst vieler Tiere sei die Stellschraube, an der man drehen könne, um das Problem einigermaßen in den Griff zu bekommen, sagt Kavasch. Und damit meint er nicht nur, dass Besitzer ihre Freigängerkatzen kastrieren lassen sollten, sondern auch, dass Streuner eingefangen, kastriert und dann wieder in die Freiheit entlassen werden sollten, „in einem vernünftigen Zustand“, wie es der Veterinär nennt.

    Gerhard und Walli Huber päppeln auf ihrem Grundstück verwilderte Katzen auf und versuchen, neue Besitzer für sie zu finden.
    Gerhard und Walli Huber päppeln auf ihrem Grundstück verwilderte Katzen auf und versuchen, neue Besitzer für sie zu finden. Foto: Stephanie Sartor

    Genau das macht die Samtpfoten–Katzenhilfe Ries. Verwilderte Katzen werden eingefangen, kastriert und dann wieder freigelassen oder vermittelt. Vereinsmitglieder nehmen die Tiere vorübergehend bei sich auf. Etwa Gerhard und Walli Huber. In ihrem Haus im kleinen Örtchen Laub, etwa eine viertel Stunde von Nördlingen entfernt, leben derzeit 20 Katzen. Die Hubers bringen sie zur Kastration, päppeln sie auf und – wenn alles gut geht – vermitteln sie an neue Besitzer. Überall stehen Körbchen, im Wohnzimmer auf der Kachelofenbank, draußen vor der Terrasse, im Gras, unter Büschen. Ein Elektrozaun sorgt dafür, dass die Tiere nicht ausbüchsen.

    Merlin, ein grauer Kater, tapst durchs Gras auf Walli Huber zu. Schwer verletzt landete das Tier vor einigen Wochen bei ihr. Es hatte nässende Wunden an den Beinen und konnte nicht laufen. Alle hatten dazu geraten, das Tier einzuschläfern. Aber die Katzenliebhaberin weigerte sich. Stundenlang übte sie mit Merlin, brachte ihm bei, wieder seine Pfoten zu benutzen, und versorgte seine Wunden. „Als er das erste Mal allein gelaufen ist, habe ich angefangen zu weinen“, erzählt sie.

    Auch der blinde Kater Nils lebt bei den Hubers – für ihn einen Besitzer zu finden, wird schwer. Niedliche Babykatzen zu vermitteln, sei deutlich einfacher. „Einmal hat der Verein am Samstag eine Anzeige geschaltet und am Montag hatten die Kätzchen schon ein neues Zuhause“, sagt Walli Huber.

    Auf so einen Moment warten auch die schwarzen Katzenkinder im Nördlinger Tierheim. Erst müssen sie aber wachsen und vor allem gesund werden. Denn alle vier leiden an Katzenschnupfen. Wird der nicht richtig behandelt, kann er tödlich sein. Die kleinen Fellknäuel kuscheln sich unter ihre Wolldecke, fiepen und miauen leise und blinzeln in die Sommersonne. Eigentlich sind es nur vier Tierkinder. Aber sie sind auch ein Symbol. Für hunderttausende herrenlose Katzen im Freistaat. Und für ein Problem, das man so schnell wohl nicht in den Griff bekommen wird.

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