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Gaffer: Warum die Gier nach Sensationen nicht aufhören will

Gaffer

Warum die Gier nach Sensationen nicht aufhören will

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    A8 zwischen Günzburg und Burgau, 5. September 2017. Bei diesem Unfall filmt ein Gaffer einen sterbenden Motorradfahrer.
    A8 zwischen Günzburg und Burgau, 5. September 2017. Bei diesem Unfall filmt ein Gaffer einen sterbenden Motorradfahrer. Foto: Christian Kirstges

    Dass die Feuerwehr so sauer reagiert, passiert nicht alle Tage. Fürth, 19. August. Großbrand bei einer Müllentsorgungsfirma. Am Abend heißt es, die Lage sei unter Kontrolle. Hinterher allerdings macht die Feuerwehr ihrem Ärger Luft. Auf Facebook schreibt sie: „Großfahrzeuge der Feuerwehr, die an der Einsatzstelle gebraucht wurden, steckten zwischenzeitlich inmitten der Sensations-Touristen fest.“ Wieder einmal also: Gaffer.

    Dass die Polizei einen so strengen Bericht verfasst, passiert auch nicht alle Tage. Schönau am Königssee, 22. August. Ein Bergsteiger verunglückt tödlich am Watzmann. Die Bergung ist nur per Hubschrauber und Seil möglich, an dem ein Mitglied der Bergwacht hängt. Im Polizeibericht heißt es später, weitere Wanderer hätten „durch ihre Neugierde die Bergung unnötig schwierig und gefährlich“ gemacht. So hätten sie sich zu dicht an dem verunglückten Mann aufgehalten, sodass der Retter am Seil in Gefahr geriet, durch Pendelbewegungen Unbeteiligte vom Grat zu stoßen. „Lautsprecher-Durchsagen durch die Hubschrauber-Besatzung konnten die Leute nicht davon abhalten, vor lauter Neugier bis an den Rand der Rinne oberhalb der Einsatzstelle zu gehen.“ Also schon wieder: Gaffer.

    Wenn die Gier nach Sensationen größer ist als Vernunft

    Nur zwei Beispiele aus einer Woche, nur aus Bayern. Es gibt noch viel mehr. Hat die Politik nicht mehrmals Gesetze verschärft, um genau so etwas zu verhindern? Hat man nicht noch mehr unternommen, etwa Sichtschutzwände angeschafft? Und weisen Einsatzkräfte nicht gebetsmühlenartig darauf hin, wie moralisch verwerflich es ist, dort mit der Kamera seines Smartphones draufzuhalten, wo ein Mensch um sein Leben kämpft? In vielen Fällen scheint die Gier nach Sensationen einfach größer zu sein.

    Polizei Berchtesgaden, ein paar Tage nach dem Tod des Bergsteigers. Bei der Inspektion haben sie einen Polizeibergführer, Andreas Hölzl. Er kennt sich aus mit solchen Einsätzen. Hölzl versucht, die Wogen zu glätten. Nach dem Einsatzbericht, den die örtliche Presse veröffentlichte, haben sich Bergsteiger zu Unrecht angegriffen gefühlt. Einer ging an die Öffentlichkeit. Dazu muss man wissen, dass das Bergsteigen im Berchtesgadener Land zum Selbstverständnis, ja zur DNA der Einheimischen gehört. Die Augenzeugen versuchten sich damit zu rechtfertigen, dass bei gutem Wetter oft 300 Bergsteiger und mehr auf dem Grat unterwegs sind. Und dieser Mittwoch sei so ein Tag gewesen. Heißt: Von Gaffen könne keine Rede sein, zum Zeitpunkt des Unglücks seien einfach sehr viele Menschen vor Ort gewesen.

    Letzteres bestätigt Hölzl unserer Redaktion. Es habe auch „keine konkrete Gefährdung“ gegeben. Er sagt aber auch, dass „einige gaffen wollten“, Steine losgetreten hätten und dies nicht ungefährlich sei. Die besagten Stellen im Polizeibericht seien ein „dezenter Hinweis“ gewesen, sich in solchen Situationen „defensiv zu verhalten“.

    Für viele Einsatzkräfte ist das Fass längst übergelaufen

    Für viele, die in Unglücksfällen an den Einsatzort eilen, um Leben zu retten – Polizei, Feuerwehr, Rettungskräfte, Wasserwacht, Katastrophenschutz –, ist das Fass längst übergelaufen. Peter Sefrin, bis vergangenen Herbst Sprecher der im Freistaat tätigen Notärzte, sagte einmal: „Bei einem Fünftel aller Rettungseinsätze wird die Hilfe durch Schaulustige behindert.“

    Das beginnt beim bloßen Gaffen, geht übers Handyzücken und Filmen bis hin zu körperlichen Attacken auf Retter. „Es ist ein absolutes Unding, wenn Autofahrer bei einem Unfall anhalten – und das nicht, um zu helfen, sondern um zu gaffen und zu fotografieren“, sagt Bayerns Justizminister Winfried Bausback unserer Redaktion. Deshalb sei er froh, „dass wir im vergangenen Jahr nun auch die Behinderung hilfeleistender Personen unter Strafe gestellt haben. Damit drohen Gaffern erhebliche Strafen und Bußgelder.“

    Schon länger müssen Schaulustige, die Verletzte fotografieren oder filmen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe rechnen. Der entsprechende Paragraf im Strafgesetzbuch wurde 2015 erweitert. Mit einer Gesetzesänderung 2017 wurde neben der unterlassenen Hilfeleistung eben auch die Behinderung hilfeleistender Personen unter Strafe gestellt. Das Gesetz sieht eine Geldstrafe oder maximal ein Jahr Haft vor. Gefängnisstrafen sind bisher selten, doch die Polizisten bitten Gaffer vehement zur Kasse.

    Im Juli 2017 beispielsweise mussten auf der A3 gleich 20 Schaulustige noch vor Ort bezahlen. Sie hatten an einer Unfallstelle Fotos und Videos gemacht und waren dabei den Rettungskräften im Weg gestanden. Seit Herbst werden auch Rettungsgassen-Blockierer härter bestraft. Bisher wurden 20 Euro fällig, nun sind es mindestens 200. Werden andere dabei gefährdet oder entsteht ein Sachschaden, droht zusätzlich ein Monat Fahrverbot.

    Als in der Region ein Gaffer besonders dreist vorging

    A8 zwischen Günzburg und Burgau, 5. September 2017. Ein Motorradfahrer verunglückt und kämpft um sein Leben. Nur wenige Meter entfernt hält ein gaffender Lastwagenfahrer im Stau stehend sein Smartphone in der Hand und filmt. Zu dem Zeitpunkt sind die Gesetzesverschärfungen längst in Kraft. Der Motorradfahrer stirbt noch an der Unfallstelle. Ein Gericht verhängt später gegen den Gaffer eine Geldstrafe in Höhe von 2700 Euro, außerdem muss er für einen Monat seinen Führerschein abgeben.

    Ulm, 12. Mai. Nach einem tödlichen Unfall, wieder auf der A8, filmt ein Vater vor den Augen seiner Kinder das Geschehen. Die Polizei leitet gegen ihn und neun weitere Gaffer Verfahren ein, auch weil sie den Verkehr behindert und beinahe Unfälle verursacht haben sollen.

    Zwei besonders krasse Fälle aus den vergangenen Monaten, zwei von vielen. Noch einmal: Die Gesetzesverschärfungen gab es da schon. Hat das alles nichts gebracht?

    Josef Sitterer gibt sich diplomatisch. „Eine gravierende Verbesserung haben wir nicht festgestellt“, sagt der Dienststellenleiter der Autobahnpolizei Gersthofen, die für die A8 zwischen Adelzhausen und Jettingen-Scheppach zuständig ist. Es werde noch immer gegafft und das Handy noch immer gezückt. Warum? Sitterer denkt lange nach. „Es ist schlimm, aber vielleicht liegt es irgendwie in der Natur des Menschen.“ Und doch steht für ihn außer Frage: „Wir verfolgen solche Verstöße rigoros.“ Auch den Fall, der bis vor ein paar Tagen auf seinem Schreibtisch lag.

    Psychologen: Aufklärung ist wirksamer als Strafen gegen Gaffen

    Im Frühjahr filmten sowohl der Fahrer als auch der Beifahrer im fließenden Verkehr aus einem Bus heraus einen Unfall auf der A8. Und nicht nur das. Als die Unfallbeteiligten die Busfahrer sehr eindeutig mit Handbewegungen aufforderten, das Filmen zu unterlassen, wurden sie von diesen mit obszönen Gesten beleidigt. Die Polizei hat die Männer mittlerweile ausfindig gemacht. Nun haben sie eine Anzeige am Hals, der Fall liegt bei der Staatsanwaltschaft.

    Ist die Gier nach Sensationen normal? Eine Psychologin sagt: Gaffen ist etwas Reflexhaftes.
    Ist die Gier nach Sensationen normal? Eine Psychologin sagt: Gaffen ist etwas Reflexhaftes. Foto: Lino Mirgeler, dpa

    Hätten sich die Busfahrer anders verhalten, wären die Strafen noch härter? Verkehrspsychologin Andrea Häußler vom TÜV Süd sagte kürzlich unserer Redaktion, dass Gaffen etwas Reflexhaftes sei. „Die Menschen interessieren sich, zeigen Neugierde. Irgendwann war das auch einmal wichtig, um zu überleben.“ Hinzu komme, dass sich die Menschen an schlimme Bilder, die man auch täglich im Fernsehen sehe, immer mehr gewöhnten. „Man stumpft ein Stück weit ab. Die Distanz geht verloren.“ Und dann gibt es noch ein Phänomen dieser Zeit: Die Empathie geht zunehmend verloren. Die Fähigkeit, sich in denjenigen hineinzuversetzen, der gerade blutüberströmt am Boden liegt.

    Es gibt Psychologen, die sagen: Härtere Strafen führen vielleicht bei einzelnen dazu, dass die Schwelle sinkt, ab der die Rationalität einsetzt – das Bewusstsein, dass das eigene Verhalten juristische Konsequenzen haben kann. Dies funktioniere aber nur langfristig über Aufklärung. Denn die Entscheidung zu gaffen, so die Argumentation, sei ja eine spontane Aktion.

    Trotzdem ist es gut möglich, dass der Gesetzgeber noch einmal nachsteuert. Im März beschlossen die Länder im Bundesrat eine Initiative, wonach Gaffer, die bei Unfällen Videos oder Fotos von Toten machen, bis zu zwei Jahre ins Gefängnis wandern können. „Das ist gut und richtig so“, findet Bayerns Justizminister Bausback. Der Freistaat hat dem Gesetzentwurf von Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern zugestimmt. Jetzt ist der Bundestag am Zug.

    Feldkirchen bei München, 21. April. Beim Fotografieren eines Großbrands blockieren Gaffer die S-Bahn. Um einen besseren Blick zu haben, hätten sich einige auf die Gleise der nahe gelegenen Haltestelle gestellt, teilt die Polizei mit.

    Schlüsselfeld bei Bamberg, 17. Juni. Auf der A3 gerät ein Auto ins Schleudern und landet im Gebüsch. Verletzt wird niemand. Auf der Gegenfahrbahn verursachen Gaffer einen Stau – und einen Auffahrunfall.

    Bayern erprobt gerade spezielle Sichtschutzwände

    Solche Sichtschutzwände werden gerade in Bayern erprobt.
    Solche Sichtschutzwände werden gerade in Bayern erprobt. Foto: Daniel Karmann, dpa

    Die Beispiele hören nicht auf. Im Polizeipräsidium Kempten heißt es, es gebe keine Statistik darüber, ob die Zahl der Behinderungen durch Gaffer zunehme. Aber: „Gefühlt wird es mehr“, sagt ein Sprecher. Mittlerweile sind in einem Pilotprojekt zwei fränkische Autobahnmeistereien mit Sichtschutzwänden ausgestattet worden. Bilanz nach einem Jahr in Gebrauch: „Nach dem Aufbau der Sichtschutzwände verflüssigte sich der Verkehr zusehends, weil die Verkehrsteilnehmer nicht mehr durch Unfälle abgelenkt wurden“, sagt eine Sprecherin des bayerischen Innenministeriums.

    Auch Feuerwehren in der Region haben schon einen ähnlichen Sichtschutz angeschafft. „Das funktioniert gut, wir sind dankbar dafür“, sagt Josef Sitterer von der Autobahnpolizei Gersthofen. Baden-Württemberg stattet gerade alle seine 15 Autobahnmeistereien mit Sichtschutzwänden aus. Den Anfang machte vergangene Woche Ulm.

    Das Grundproblem ist damit nicht gelöst. Noch lange nicht. Es wird weiter Situationen geben, in denen der Polizei der Kragen platzt. Als 2016 in Hagen in Westfalen ein Mädchen angefahren wird und unzählige Gaffer die Rettungsarbeiten behindern, filmen und fotografieren, poltern die Beamten hinterher auf Facebook: „Hey, ihr Gaffer vom Hauptbahnhof. Ihr solltet euch was schämen...“

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