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Kaufbeuren: Wertachtal-Werkstätten ermöglichen Menschen ein anderes Leben

Kaufbeuren

Wertachtal-Werkstätten ermöglichen Menschen ein anderes Leben

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    Ein therapeutisches Angebot für Menschen mit erworbener Hirnschädigung gibt es bei den Wertachtal-Werkstätten in Kaufbeuren.
    Ein therapeutisches Angebot für Menschen mit erworbener Hirnschädigung gibt es bei den Wertachtal-Werkstätten in Kaufbeuren. Foto: Mathias Wild

    Sie arbeitete als Bürokauffrau. Die beiden Männer neben ihr als Kfz-Mechatroniker und im Schichtdienst in einer Käserei. Heute scannen sie Bücher ein. Gebrauchte, gespendete Bücher, die bei Amazon wieder verkauft werden. Alle drei sind froh, die Arbeit zu haben. Denn sie schult ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Feinmotorik – vor allem sind sie unter Menschen, die alle das gleiche Schicksal eint: Von einer Sekunde auf die andere war ihr altes Leben vorbei. Die beiden Männer, 37 und 39, überlebten schwere Verkehrsunfälle, die Frau im Rollstuhl war 36 Jahre alt, als an einem Nachmittag plötzlich in ihrem Kopf ein Aneurysma platzte. Es sind Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung, die in den Wertachtal-Werkstätten in Kaufbeuren eine berufliche Reha machen. 27 Monate dürfen sie bleiben.

    Die Wertachtal-Werkstätten sind einzigartig in Schwaben

    Ihre Beeinträchtigungen sind unterschiedlich: Die 54-jährige Rollstuhlfahrerin, die an den Folgen eines Aneurysmas leidet, kämpft mit einer Lähmung ihrer linken Körperhälfte, doch sie betont selbstbewusst: „Ich bin behindert, nicht bescheuert.“ Ihr Kurzzeitgedächtnis macht ihr gelegentlich Probleme, ihr Langzeitgedächtnis funktioniert aber. Der 37-Jährige hinkt noch ein wenig, spricht etwas undeutlich. Doch wie seine Kollegin musste er alles neu erlernen: sprechen, laufen, lesen, schreiben. Und er macht sehr gute Fortschritte. Sein 39-jähriger Kollege hatte mit 20 einen Autounfall. Dem freundlichen, aufgeschlossenen Mann ist auf den ersten Blick gar keine Beeinträchtigung anzusehen. Doch er kann sich weder Gesichter noch Namen merken. Auf einem Auge ist er blind. „Ich weiß, ich leide selbst am meisten unter meinem Handicap“, sagt er. Er findet kaum Freunde, beendete seine Arbeit als Altenpfleger wieder, weil ihm sein ständiges Nachfragen, sein ständiges Entschuldigen, seine Sonderrolle so unerträglich waren.

    Roland Haag kann sich in alle drei sehr gut hineinversetzen. Der Psychologe arbeitet seit 1998 in den Wertachtal-Werkstätten. Er weiß, was es heißt, mit einer erworbenen Hirnschädigung zu leben. Er weiß, dass den Betroffenen meist kaum Freunde bleiben, Familien oft auseinanderbrechen, Ehen geschieden werden. Als er in der Einrichtung begonnen hatte zu arbeiten, kamen immer wieder Menschen, die schwere Unfälle oder Erkrankungen wie einen Schlaganfall überlebt hatten, seitdem aber mit Handicaps zurechtkommen müssen. „Sie alle hatten aber ein Leben vorher. Einen Beruf. Viel Erfahrung.“ Natürlich waren sie alle in ihren Fähigkeiten eingeschränkt. „Doch in Werkstätten für geistig behinderte Menschen passten sie nicht“, sagt Haag. Daher baute er eine eigene Abteilung auf. Im Oktober 2016 startete sie. Von den zwölf Plätzen sind aktuell elf besetzt. Neben den Buchverkäufen unter dem Namen „Wert-Buch“ bietet das Projekt auch Bücher mit persönlichen Botschaften an. Per Hand werden in alte Bücher Seite für Seite Namen und Symbole eingefaltet – so entstehen Kunstwerke.

    Es ist ein in Schwaben einzigartiges Projekt. Das bestätigt Stefan Dörle, der Inklusionsbeauftragte vom Bezirk Schwaben. Er schätzt, dass schwabenweit etwa 18.000 Menschen betroffen sind. Tendenz steigend. Denn immer mehr Menschen überleben Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma und schwere Erkrankungen. „Die medizinische Versorgung wird immer besser, aber die berufliche Reha weist große Lücken auf“, sagt Haag.

    Der Bezirk Schwaben möchte die Versorgungsstrukturen weiter verbessern. Dörle bringt viel Erfahrung in der Rehabilitation von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen mit. Er weiß, dass sehr viele Betroffene nach der Reha einfach zu Hause bleiben, weil der Weg zurück in den alten Beruf nicht möglich ist. Die Arbeit in bestehenden Behinderten-Werkstätten sei aber oft nur eine Notlösung. Daher ist sein Ziel, unter anderem mehr berufliche Qualifizierungsangebote speziell für diese Personengruppe zu schaffen – etwa auch in Augsburg oder in Nordschwaben. „Schwaben könnte hier bayernweit, wenn nicht bundesweit Modellregion werden“, sagt Dörle.

    Doch es gibt noch einen Knackpunkt, wie Psychologe Haag erklärt: Ein Gesetz besagt, dass der Sozialhilfeträger nach dem Tod des in einer Werkstätte geförderten Menschen bei den Erben einen Teil der Sozialleistungen einfordern muss. Ein geerbtes Haus oder Vermögen müssten dann zum Teil dafür hergenommen werden. „Daher rate ich immer zu einer intensiven Beratung durch einen Anwalt, damit Erben nicht überrascht werden.“ Die Regelung werde aber erst nach der beruflichen Reha wirksam.

    Roland Haag war selbst betroffen

    Der 49-jährige Psychologe kennt unzählige tragische Geschichten von Menschen mit erworbener Hirnschädigung, die alle versuchen, sich zurück in ihr Leben zu kämpfen. Zurück an ihren alten Arbeitsplatz, zurück zu ihrem Arbeitgeber kommen sie Haags Erfahrung nach so gut wie nie. „Die Politik wünscht sich das zwar, die Realität sieht aber anders aus.“ Meist arbeiten die Menschen in Werkstätten.

    Haag selbst hatte großes Glück. Als er sich für den Aufbau der Gruppe einsetzte, wusste er nicht, dass er bald selbst betroffen sein würde: Er hatte einen Hirntumor. 2006 machte er sich bemerkbar. Haag brach mit einem epileptischen Anfall zu Hause zusammen. Heute ist ihm nichts mehr anzusehen. „Doch ich bin seitdem schneller erschöpft, habe manchmal leichte Wortfindungsstörungen.“ Für die Menschen in seinem Projekt ist er die Idealbesetzung: Ein Chef, der weiß, wie brutal man aus seinem Leben herausgerissen werden kann, welche Folgen dies hat. Bei ihm wissen sie, dass es ehrlich ist, wenn er ihnen einbläut: Nicht aufgeben, das Beste daraus machen, weiterkämpfen.

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