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Allgäu: Wie Kempten den Bandenkrieg stoppte

Allgäu

Wie Kempten den Bandenkrieg stoppte

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    Vor Jahren galt der Kemptener Stadtteil Thingers als sozialer Brennpunkt. Heute ist dort Ruhe eingekehrt.
    Vor Jahren galt der Kemptener Stadtteil Thingers als sozialer Brennpunkt. Heute ist dort Ruhe eingekehrt. Foto: Ralf Lienert

    Connie ist an diesem Abend zu Gast. Connie, die Diva, wie sie sich selbst nennt. Ein Kemptener Original ist die blonde Mittfünfzigerin, mit knallroten Lippen, farbenfrohem Gewand und tiefem Dekolleté. Sie singt hier auf der Bühne im Bürgertreff des Kemptener Stadtteils Thingers von der Leidenschaft, der Liebe, von schönen Gefühlen, einer geliebten Heimat, vom Frieden und von Wundern dieser Erde. Sie erntet nach jedem Lied starken Applaus des Publikums.

    Bandenkrieg zwischen russischen und türkischen Gruppen

    Die Menschen, die an diesem Abend im Bürgertreff-Saal Platz genommen haben, sind dankbar für Connies frohe Botschaften. Sie wissen Begriffe wie Liebe, Frieden und Heimat zu schätzen. Viele kommen aus anderen Ländern, aus anderen Kulturkreisen, aus einer mitunter anderen Welt. Sie sind zwar schon lange hier, aber sie denken dennoch oft an ihre frühere Heimat. An Russland, an das ehemalige Jugoslawien oder an die Türkei.

    Gewiss, Kempten ist für sie längst zur neuen Heimat geworden. Speziell das Gebiet Thingers im Norden dieser Stadt. Aber wohlgefühlt haben sie sich am Anfang, als sie mit ihren Koffern vor der neuen Wohnung standen, nicht. Denn den von Connie, der Diva, besungenen Frieden gab es für sie zunächst nicht. Stattdessen Spannungen mit den Nachbarn, Unsicherheit, Heimweh und schließlich die nackte Angst, beim Spaziergang am Abend überfallen, zusammengeschlagen oder sogar angeschossen zu werden – von anderen gewaltbereiten ausländischen Bürgern, im Schutze der Dunkelheit. Es herrschte ein Bandenkrieg zwischen russischen und türkischen Gruppen.

    Getto-Bildungen kein großtadtspezifisches Problem

    Das alles ist Vergangenheit. In diesem Kemptener Stadtteil ist wieder Ruhe und Frieden eingekehrt. Zu verdanken ist das vor allem einem bundesweiten Projekt, das vor 15 Jahren entstanden ist, und notwendig wurde, weil in vielen deutschen Städten immer wieder Problemviertel entstanden sind, die sich schlimmstenfalls zu einer Art Getto entwickelten. Kein großstadtspezifisches Problem übrigens, wie das Beispiel der 65.000-Einwohner-Stadt Kempten zeigt. Dort gibt es mit St. Mang inzwischen einen zweiten Stadtteil, der in dieses städtebauliche Förderprogramm aufgenommen wurde.

    Für Kempten-Thingers entpuppte sich das Projekt „Soziale Stadt“ als Rettungsanker. Plötzlich gab es seitens des Bundes, aber auch des Landes und der Kommune finanzielle und personelle Hilfen. Und es entwickelte sich daraus eine Selbsthilfe. Engagierte Bürger gründeten 2001 den Verein Ikarus, der den Migranten zahlreiche Angebote und einen Treffpunkt in jenem Gebäude bietet, in dem an diesem Abend die heimische Künstlerin Connie einen Liederabend gestaltet.

    Kempten, Mitte der 90er Jahre: In Thingers-Nord leben viele türkische Bürger. Andererseits kommen immer mehr deutschstämmige Familien aus Russland in diesen Stadtteil. Natürlich sprechen die Neuankömmlinge nur gebrochen Deutsch. Natürlich sind sie in einem anderen Kulturkreis aufgewachsen als die türkischen und deutschen Nachbarn. Viele von ihnen stammen aus einfachen Verhältnissen. Manch einer der Alteingesessenen in Thingers wundert sich über die angebliche hohe finanzielle Unterstützung der Russlanddeutschen. Viele Missverständnisse tauchen auf. „Wir wohnen doch viel länger hier“, melden sich manche Bürger mit Migrationshintergrund zu Wort, „bekommen aber viel weniger als die da!“

    Viele Menschen ziehen weg, als die Gewalt eskaliert

    Solche Situationen sind nicht selten ein Nährboden für Neid, Missgunst, Abneigung, Hass. Eine explosive Melange, die im Norden der Allgäu-Metropole immer mehr zur Gefahr wird und zivilisiertes Miteinander auf den Kopf stellt. Gewaltbereite Jugendliche, russische und türkische, rotten sich zusammen. Einige von ihnen bewaffnen sich – mit Schlagstöcken, Messern, Pistolen. Kempten hat 1998 einen sozialen Brennpunkt, der sich immer wieder neu entzündet.

    Einer, der diese aufgeheizte Stimmung hautnah mitbekommt, ist Wolf Hennings, evangelischer Pfarrer der Markusgemeinde in diesem Stadtteil und heute zweiter Vorsitzender des Vereins Ikarus. „Die Polizei“, erinnert er sich, „rückte regelmäßig in Mannschaftsstärke an. Für eine Streife mit zwei Polizisten wäre das manchmal viel zu gefährlich gewesen.“ Auseinandersetzungen, offene Gewalt, gettoähnliche Zustände: In Teilen seiner Gemeinde herrscht das blanke Chaos. Viele deutsche Bürger, die dort schon lange wohnen, kündigen ihre Mietverträge und ziehen weg. Wolf Hennings hingegen bleibt und stellt sich dem gewaltigen Problem. Der Pfarrer und andere engagierte Leute versuchen, die Menschen der unterschiedlichen Lager zu Gesprächen an einen Tisch zu bringen. Das gelingt eines Tages tatsächlich in den Räumen der Markuskirche.

    Der heute 70-jährige Wolf Hennings weiß noch zu gut, welche Worte er damals wählte, als die Rivalen auf den Stühlen in seiner Kirche Platz nahmen: „Hier lässt jeder den anderen aussprechen. Nur ich darf den Redner unterbrechen. Ist das klar?“ Die Gekommenen halten sich weitgehend daran. Nach mehreren intensiven Gesprächsrunden gelingt es tatsächlich, ein durchdachtes Programm für diesen problematischen Stadtteil auf den Weg zu bringen und die Stadtoberen mit Oberbürgermeister Ulrich Netzer an der Spitze von der Notwendigkeit zahlreicher Maßnahmen zu überzeugen.

    Stadt wird 2010 in Förderprogramm aufgenommen

    Natürlich kostet das Geld, aber Kempten muss handeln, um dem Chaos die Stirn zu bieten: Neugestaltung eines Ortsmittelpunktes, Einrichtung eines Bürgertreffs und eines Bürgerparks, ein Sandrasenplatz zum Spielen, Sanierung von Straßenzügen, Bau von Basketball-, Volleyball- und Bolzplatz. Es tut sich was in Thingers. Eine große Zahl kleinerer sozialer Projekte rundet die umfangreichen Maßnahmen ab. Wohlgemerkt: in einer Zeit, in der die Kassen der Kommunen nicht unbedingt prall gefüllt sind.

    Dann der endgültige Durchbruch auf dem Weg zu einer deutlichen Besserung: Thingers-Nord wird im Jahr 2000 aufgenommen in das Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“ und erhält kräftige Zuschüsse. Gottfried Feichter, Wolf Hennings und andere Mitstreiter gründen kurz darauf den Integrationsverein „Ikarus“. Er bietet Sprachkurse an, Beratungen, lässt Jugendprojekte entstehen und eine Bürgerzeitung. Der Verein organisiert zudem regelmäßige Begegnungen, Ausstellungen, Feste, Theater- oder Konzertabende. Angebote, die laut Wolf Hennings auch heute noch fleißig angenommen werden. Selbst wenn es immer noch Luft nach oben gebe.

    Barrieren zwischen den Völkergruppen sind kleiner geworden

    Bürgerengagement im besten Sinne nennt er die Arbeit, die in den letzten zehn Jahren hier im Allgäu geleistet wurde. Und ein bestes Beispiel dafür, wie zielführend eine harmonische Zusammenarbeit mit der Stadtspitze sein kann – zum Wohle der Menschen.

    Nach dem Konzert mit Connie, der Diva, muss keiner der Zuhörer ein mulmiges Gefühl auf dem Heimweg haben. Trotz Dunkelheit. Man blickt in zufriedene Gesichter von Menschen, die einen unterhaltsamen Abend erlebt haben. Von einem sozialen Brennpunkt, sagt beispielsweise Stadtteilmanagerin Ruth Haupt, könne keine Rede mehr sein. Sie versichert: „Das Projekt Soziale Stadt hat viel bewirkt.“ Es hat Ruhe einkehren lassen auf den Straßen von Thingers. Und es hat die Barrieren zwischen den Völkergruppen zumindest kleiner werden lassen.

    Für einen wie Wolf Hennings ist allerdings auch klar: „Wir dürfen nicht nachlassen in unserem Engagement. Zu viele Aufgaben sind noch ungelöst.“ Auch wenn er inzwischen im Ruhestand ist: Zurücklehnen und Däumchen drehen wird er hier, im Norden Kemptens, auch in den kommenden Jahren nicht.

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