Herr Dr. Ritter, Sie sind der Vorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbandes, die Koalition plant ein verbindliches Primärarztsystem. Das heißt mit wenigen Ausnahmen, etwa Gynäkologen- oder Augenarztbesuche, muss ich als Patient künftig immer zuerst einen Hausarzt oder eine Hausärztin aufsuchen. Brauchen wir so ein Primärarztmodell wirklich?
DR. WOLFGANG RITTER: Ja, wir sind definitiv dafür, denn wir brauchen eine Patientensteuerung. Man muss aber dringend erklären, warum und was das bedeutet. Denn die Verunsicherung der Patientinnen und Patienten ist groß und viele fürchten ohne Grund Nachteile. Dabei ist das System nicht neu, die hausarztzentrierte Versorgung ist seit zwei Jahrzehnten ein Garant für eine bessere medizinische Versorgung, fast zehn Millionen Menschen haben sich freiwillig bereits dazu entschlossen.
Dennoch sehen sich nun viele vermutlich entmündigt, weil sie selbst entscheiden wollen, wann sie zu welchem Facharzt gehen.
RITTER: Aber damit fängt es doch schon an: Zum einen ist alles, was die Vorsorge betrifft, vom Primärarztmodell ausgenommen. Frauen können beispielsweise weiterhin ohne Überweisung zum Frauenarzt, zur Frauenärztin, auch Augen- und Zahnarztbesuche sind nicht betroffen. Zum anderen ist es wirklich durch so viele Studien erwiesen, dass Patientinnen und Patienten von einem Primärarztmodell gesundheitlich stark profitieren. Es ist gesundheitlich oft sogar gefährlich, wenn Patientinnen und Patienten ungesteuert Gebietsärzte aufsuchen.
Nur kurz zur Erklärung: Sie meinen mit Gebietsärzte Fachärzte?
RITTER: Ja, ich lehne das Wort Facharzt ab, weil Allgemeinmediziner auch Fachärzte sind, Fachärzte für Allgemeinmedizin, wir werden oft schon vom Begriff her abqualifiziert. Dabei hat sich längst gezeigt, dass wir 80 Prozent der Fälle lösen können, nur bei etwa 20 Prozent der Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, ist ein Spezialist beziehungsweise eine Spezialistin überhaupt nötig.
Welche Gefahren sehen Sie?
RITTER: In unserem Gesundheitssystem haben sich leider längst investorengesteuerte Arztpraxen etabliert, die rein gewinnorientiert Operationen vornehmen, die völlig unnötig wären. Ein Beispiel sind Augenarztpraxen, die sich auf bestimmte Eingriffe, wie etwa grauer Star spezialisiert haben, sie operieren häufig ohne medizinische Notwendigkeit. Ich habe das schon so oft erlebt: Patienten, die zu mir kamen und gesagt haben, dass sie jetzt am grauen Star operiert werden, habe ich erst einmal gefragt, wo sie Beeinträchtigungen erleben, ob sie beispielsweise beim Fußballspiel im Fernseher die Tabelle im oberen Rand noch sehen, ob also etwas auf ein eingeschränktes Gesichtsfeld deutet. Dann habe ich sie zu einem konservativen Augenarzt überwiesen, und da stellte sich oft heraus, dass es nur eine leichte, altersgemäße Linsentrübung ist, eine OP aber gar nicht nötig ist.
Zum Augenarzt gehe ich aber weiter ohne vorherigen Hausarztbesuch.
RITTER: Das stimmt, sie haben diese medizinisch unnötigen Operationen aber in vielen Bereichen: Schauen Sie sich in der Orthopädie die hohe Zahl an Kniearthroskopien an, die meisten Knieprobleme lassen sich mit konservativen Methoden lösen. Auch viele Herzkatheter-Eingriffe werden gemacht, weil sich viel Geld damit verdienen lässt. Wir haben leider ein honorargesteuertes Gesundheitssystem. Doch jede Operation ist mit einem Risiko für den Patienten verbunden. Eine Operation sollte doch nur durchgeführt werden, wenn sie wirklich notwendig ist.
Die Bundespolitik will ja nun offenbar investorengesteuerten medizinischen Versorgungszentren einen Riegel vorschieben.
RITTER: Das muss wirklich passieren, und zwar ganz schnell! Hier in München kaufen große Laborketten bereits Hausarztsitze auf und Pharmaunternehmen übernehmen onkologische Praxissitze. Hier droht unser aller Tod: Denn es breitet sich eine medizinische Versorgung aus, die nicht mehr den chronisch kranken Menschen begleiten und unterstützen will, sondern ausschließlich gewinnmaximiert behandelt.
Aber schon jetzt gibt es zu wenig Hausärztinnen und Hausärzte. Viele fühlen sich zudem überlastet. Schaffen die Hausärzte so einen Systemwechsel zum Primärarztmodell überhaupt?
RITTER: So ein Systemwechsel kommt ja nicht von heute auf morgen. Da werden viele Diskussionen und Kämpfe gerade auch mit konservativen Gebietsärzten, die sich natürlich dagegen wehren, noch ausgefochten werden müssen. Und ja, für das Primärarztmodell brauchen wir mehr Hausärztinnen und Hausärzte, dafür muss nun auch gesorgt werden.
Und wie?
RITTER: Indem beispielsweise endlich die sprechende Medizin besser bezahlt wird als die technische. Es ist doch ein Unding, dass beispielsweise Radiologen aufgrund ihrer gerätebasierten Untersuchungen zu den bestbezahltesten Ärzten gehören, die Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin aber, die sich ganzheitlich um Patienten kümmern, die beispielsweise das soziale Umfeld mit berücksichtigen und jemanden über Jahre begleiten, die sind in der Vergütung im unteren Drittel.
Vom Primärarztmodell verspricht man sich auch Einsparungen, es sollen die Arzt-Patienten-Kontakte verringert werden.
RITTER: Zurecht. Denn wir sind Spitzenreiter, wenn es darum geht, wie viele Milliarden wir Jahr für Jahr in unser Gesundheitssystem pumpen und wir sind Weltmeister bei Operationen. Dennoch sind wir nicht führend bei der geringsten Sterblichkeitsrate. Schon daran muss doch jeder erkennen, dass etwas gewaltig schiefläuft: Ohne eine sinnvolle Patientensteuerung über uns Hausärzte fährt das deutsche Gesundheitssystem mittelfristig an die Wand. Ökonomisch, aber eben auch, weil es nachweislich der Gesundheit der Menschen nicht dient, wenn sie ungesteuert von einem Gebietsarzt zum anderen wandern. Schauen Sie sich doch nur unsere völlig überlasteten Notaufnahmen an: Rund 40 Prozent der Patienten sind dort falsch, verursachen aber enorme Kosten und sorgen für Kapazitätsengpässe. Und noch ein Beispiel: Wir haben allein in München so viele MRT-Untersuchungen wie in ganz Italien, da stimmt doch etwas nicht, das zahlen aber alle Versicherten. Die Menschen sind aber nicht gesünder, im Gegenteil.
Der Bayerische Facharztverband läuft Sturm gegen das Primärarztmodell und warnt vor einer schlechteren Versorgung...
RITTER: Ich weiß, das ist aus Sicht vieler konservativer Gebietsärzte auch nachvollziehbar: Mit dem Primärarztmodell werden sie viele leichte Versorgungsfälle verlieren. Die Spezialisten aber, wie etwa in der Rheumatologie oder in der Endokrinologie, die begrüßen das Primärarztmodell, denn von ihnen gibt es nicht viele und die sind froh, wenn die Patienten nicht ungesteuert ihre wenigen Termine blockieren. Wobei wir bei einem ganz wichtigen Thema sind: Termine bei Gebietsärzten.
Die Wartezeiten sind oft lang.
RITTER: Patientinnen und Patienten müssen oft drei, wenn nicht sechs Monate warten, um einen Termin bei einem Gebietsarzt zu bekommen. Der Grund ist auch hier oft das Geld: Viele Gebietsärzte lassen Termine frei, weil sie über den Hausarztvermittlungsfall mehr Honorar bekommen.
Zur Person: Dr. Wolfgang Ritter, 57, ist Facharzt für Allgemeinmedizin und praktiziert in München. Seit 2022 ist er Vorsitzender des Bayerischen Hausärzteverbands.
Fakt bleibt aber doch auch, dass das ganze System durch die Politik und auch durch die Krankenkassen in den letzten Jahrzehnten kaputt gespart - an die Wand gefahren - wurde. Es wurden falsch Anreize gesetzt, falsche Bezahlungen etabliert und insb. das jetzige Krankenhaussterben ist letztlich auch auf diese bewussten Fehlplanungen zurückzuführen. Und jetzt auch wieder mit Hauruckmethoden zu versuchen, dieses System zu retten, führt doch auch in die gleiche Richtung.
Was soll das mit der Bezeichnung Gebietsarzt? Wenn Gebiet für Fachrichtung steht? Und ein Allgemeinmediziner auch ein Gebietsarzt ist? Versteht kein normaler Mensch, führt nur zur Verwirrung weil man eigentlich eher an das örtliche "Gebiet" denkt. Wenn schon, dann wäre Fachgebietsarzt praktikabel nur wozu, wenn der Hausarzt doch wert darauf legt auch ein Fachgebietsarzt zu sein? Die letzte Antwort lässt mich rätselnd zurück. Die Fachärzte bekommen mehr Geld, wenn sie einen Patienten vom Hausarzt vermittelt bekommen. Deshalb lassen sie für diese Termine frei, weshalb es lt. Herrn Ritter zu langen Wartezeiten käme. Aber genau das will er doch - dass Patienten vom Hausarzt an den Facharzt überwiesen werden. Verstehe ich ncht. Ansonsten bleibt, dass das alles graue Theorie ist, solange die Hausärzte selbst völlig überlaufen sind, keine Zeit haben, man dort keinen Termin bekommt und sie schon aus diesem Grund jeden Patienten an einen Facharzt verweisen.
Ein Hausarzt ist übrigens auch ein Facharzt für Allgemeinmedizin
Wenn ich mich nicht wohlfühle wird mein erster Besuch doch meinem Hausarzt gelten, und nicht einem vielleicht Facharzt, den ich nicht kenne oder der von einer Suchmaschine empfohlen wird. Mein Vertrauen gilt erst einmal dem Hausarzt, der auch weiß welcher andere Arzt die Beschwerden lösen oder hilfreicher diagnostizieren / beheben kann.
"... der von einer Suchmaschine empfohlen wird." Aber genau hier liegt doch auch ein gewaltiges, selbst gemachtes Problem. Viele glauben, dass das "allwissende Internet" die Lösung bringen würde und folglich wird fleißig den Fachleuten (Ärzten) widersprochen und auf die eigene Recherche im Internet verwiesen. Wie dumm kann man eigentlich sein?
Damit wäre man als Patient dem Hausarzt komplett ausgeliefert, auch wenn er noch so eine Pfeife ist. Herr Dr. Ritter erwähnt auch nicht, ob das auch für die Privatpatienten gelten soll. Viel wichtiger und der erste richtige Schritt wäre es die Zwei-Klassen-Medizin abzuschaffen, indem man das Privatpatientensystem, aabschafft. Da in der Privaten Krankenversicherung (PKV)überwiegend die Besserverdiener (ohne Überschreitung der SV-Beitragsbemessungsgrenze oder als Selbständiger oder als Beamter kommt man nicht in die PKV) und potentiell Gesünderen (bei bestehenden Krankheiten bei den Gesundheitsfragen wird man von den Rosinenpickern der PKV gar nicht erst aufgenommen) würde die Abschaffung des Privaten Krankenversicherungsmodells die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen sehr stärken, wenn künftig die Beiträge der besserverdienenden Gesünderen anstatt in die PKV der GKV zufließen würden. Es ist beschämend, dass Herr Dr. Ritter darauf mit keinem einzigen Wort eingeht. Warum wohl?
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden