
Der letzte Hüter eines jüdischen Friedhofs geht

Plus Eine jüdische Gemeinde gibt es in Harburg schon lange nicht mehr. Aber viele Gräber. Sie zu pflegen, ist seit über 100 Jahren das Herzensanliegen einer Familie.

Der Abschied von dieser Aufgabe fällt Friedrich Thum sichtlich schwer. Er sei mit seinen 82 Jahren einfach nicht mehr in der Lage, die Arbeit zu erledigen. Das Gehen fällt dem Mann trotz eines Stocks schwer. Deshalb könne er nicht mehr das Gras mähen, das Laub zusammenrechen dort oben im jüdischen Friedhof hoch über Harburg am Hühnerberg, einige hundert Meter entfernt von dem Anwesen der Thums. Auch könne er keine Besuchergruppen mehr empfangen und über das Gelände führen, auf dem – von einer mannshohen Mauer umgeben – rund 250 alte Grabsteine unter großen Bäumen stehen. Einen Schlüssel für das einstige Leichenhaus (Taharahaus) und das Tor wolle er noch behalten. Schließlich hat seine Familie schon seit über 100 Jahren einen solchen. Die Thums waren drei Generationen lang so etwas wie die Behüter des Friedhofs. Ihnen ist es zu einem erheblichen Teil zu verdanken, dass die Stätte erhalten und vielen Menschen im Bewusstsein geblieben ist.
Die letzten Familien zogen 1936 weg
Eine jüdische Gemeinde gibt es in Harburg schon seit fast 90 Jahren nicht mehr. 1936 zogen unter dem Druck des Nazi-Regimes die letzten Familien weg. Zuletzt lebte nur noch der frühere Stadtrat und Kurzwarenhändler Julius Nebel in dem Wörnitzstädtchen in Nordschwaben. Er starb 1938 und war der letzte Jude, der auf dem Friedhof begraben wurde. Damit schien nach über 250 Jahren jegliches jüdische Leben erloschen. Dies wollte die Familie Thum, die der evangelischen Kirche angehört, nie akzeptieren. Friedrich Thum half dabei mehr als 70 Jahre mit. Dafür erhält er nun die Silberdistel unserer Zeitung.
Für Thum war und ist das Bewahren des jüdischen Erbes so etwas wie eine Lebensaufgabe. Im Jahr 1909 war Friedrichs Großvater Konrad gerade erst aus dem Ries nach Harburg gezogen und hatte dort ein Anwesen gekauft, als die ortsansässigen Juden mit einer Bitte an den großen, kräftigen Mann herantraten. Sie fragten, ob er beim Ausheben der Gräber helfen könne. Dies war in dem steinigen Boden eine schwierige Arbeit. Der gelernte Maurer sagte zu und fühlte sich fortan mit den Juden in Harburg verbunden, deren Zahl im Ort immer kleiner wurde. Von 1934 an halfen auch Konrads Sohn Friedrich senior und dessen Frau Margaretha bei der Pflege der Anlage mit.

Es begann eine schlimme Zeit. Die Nazis, die alles Jüdische ausradieren wollten, verboten der Familie Thum von 1938 an, den Friedhof zu betreten. Als Konrad Thum sah, wie Plünderer Grabsteine aus dem Gelände trugen, wollte er eingreifen, doch ein mit einem Gewehr bewaffneter Wächter drohte, er würde ihn erschießen. In den 1940er Jahren befand sich auf der Harburg ein Wehrerziehungslager der Hitlerjugend. Konrad Thum erfuhr, dass die Verantwortlichen planten, den Friedhof einzuebnen und als Exerzierplatz zu nutzen. Glücklicherweise habe sein Großvater den Chef des Lagers gekannt und diesem ein anderes Areal schmackhaft gemacht.

Der Friedhof blieb, wenn auch von den ursprünglich etwa 400 Gräbern nicht mehr alle vorhanden waren. Nach dem Ende der Schreckensherrschaft kümmerten sich die Thums weiter um die Gedenkstätte. Der damalige Bürgermeister habe kein Interesse an dieser Aufgabe gehabt. Also behielten die Thums den Schlüssel. Friedrich Thum junior, geboren 1940, begleitete seinen Großvater und seinen Vater schon als Kind auf den Friedhof. Damals hörte der kleine Friedrich von seinem Opa einen Satz, den er sich einprägte: Die Juden in Harburg seien "gute Menschen" gewesen. Also packte Friedrich Thum junior mit an. Ebenso wie später seine Frau Emma.
Die Thums wurden zu Ansprechpartnern für die Israelitische Gemeinde für München und Oberbayern – dieser gehört das Grundstück – und für Nachkommen der Juden aus Harburg, Ederheim, Mönchsdeggingen und Alerheim, die dort bestattet wurden. Im Laufe der Zeit eignete sich Thum aus den Gesprächen, den Erzählungen und aus Büchern ein umfangreiches Wissen an über die jüdische Kultur, die einzelnen Grabmale (die letzte Ruhestätte eines Juden gehöre diesem auf Ewig) und die Personen, an welche diese erinnern. Diese Kenntnisse gab Friedrich Thum über Jahrzehnte gerne an Interessierte weiter. Dazu gehörten Schulklassen und Vereine. Am Tag der jüdischen Kultur in Europa folgte jedes Jahr eine stattliche Schar dem Behüter über den Friedhof.

Hinzu kommen freundschaftliche Kontakte zu den Nachfahren der Harburger Juden, die mittlerweile in Deutschland, Israel, in der Schweiz und den USA leben. Sie schreiben dem Rentner regelmäßig oder besuchen den Ort. Ignaz Bubis, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ließ sich 1996 von Friedrich Thum den Friedhof zeigen und unterhielt sich angeregt mit ihm: "Er wollte alles wissen und hat sich bedankt." Künftig will die Stadt Harburg dafür sorgen, dass die Gedenkstätte mit Leben erfüllt wird. Das hat Bürgermeister Christoph Schmidt der Familie Thum persönlich versprochen.
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Danke. Familie Thum!
Raimund Kamm