Herr Schwartz, Sie haben Papst Franziskus oft aus der Nähe erlebt.
THOMAS SCHWARTZ: Ja, und in meinem Fall und in vielen anderen Fällen konnte man als Beobachter den Eindruck bekommen, hier ist der Papst in das tiefste, vertraulichste Gespräch verwickelt, das sich denken lässt. Dabei dauerten solche Treffen oft nur zwei Minuten. Was verständlich ist, ein Papst hat nicht viel Zeit. Franziskus vermittelte einem sehr direkt: Sag mir, was dir wichtig ist!
Und das haben Sie?
SCHWARTZ: Man legt sich vor so einem Gespräch zurecht, was man sagen möchte. Denn natürlich hat man eine große Ehrfurcht und ist nervös. Und dann kam es doch oft ganz anders. Zum Beispiel bei unserem letzten kleinen Aufeinandertreffen im vergangenen Oktober im Rahmen der Weltsynode in Rom.
An dem Bischofstreffen, bei dem es um mehr Teilhabe und Transparenz in der katholischen Kirche ging, nahmen Sie als Gast teil.
SCHWARTZ: Ich wollte Papst Franziskus sagen: „Beten Sie für Renovabis“, das ist ja das Osteuropa-Hilfswerk, dessen Hauptgeschäftsführer ich bin. Das tat ich auch. Aber schnell ging es um meine Eltern. Er merkte wohl, dass ich in diesem Moment an sie dachte. Ich bat ihn: „Beten Sie für meinen Papa und meine Mama.“ „Die leben noch?“, wollte er wissen. „Ja, sie leben bei mir, und mein Vater ist so alt wie Sie“, sagte ich. Darauf er: „Wollen Sie mir damit sagen, dass ich Ihr Vater sein könnte?“

Darauf Sie?
SCHWARTZ: Ich sagte im Scherz: „Dann hätten Sie aber einen Gauner als Sohn.“ Daran hatte Franziskus sichtlich Spaß und bat mich, ich möge mich zu ihm setzen. Kurz danach – schließlich hatte er stets wenig Zeit – fragte er: „Weiß und Rot?“ Ich wusste nicht, was er meinte; schon kam sein Sekretär mit einem weißen und einem roten Rosenkranz für meine Eltern.
Andere Gespräche liefen ähnlich?
SCHWARTZ: Einmal sagte ich ihm, dass das Kind von Freunden sterbenskrank ist. Ob er es in sein Gebet einschließen könne? Franziskus sagte sofort: Ja. Als ich gehen wollte, hielt er mich am Ärmel fest und meinte: „Jetzt beten wir erst einmal ein Vaterunser.“ Er wolle gleich am nächsten Tag eine Messe für das Kind feiern, das solle ich den Eltern ausrichten. Am nächsten Morgen rief er mich zu sich und sagte, er habe die Messe gefeiert. Mir sind die Tränen gekommen, weil das Kind inzwischen gestorben war. Franziskus hatte das Kind, hatte die Messe nicht vergessen. So war er. Er war authentisch, ein Mann mit Ecken und Kanten.
Wie meinen Sie das?
SCHWARTZ: Er konnte durchaus auch mal mit der Hand auf den Tisch hauen und Tabula rasa machen. Es ist bekannt, wie er sogar Kardinäle zusammenstauchte. Manchmal erinnerte er mich an den fiktiven Don Camillo mit seinem aufbrausenden Wesen. Im Kern jedoch war er, ebenfalls wie Don Camillo, ein Seelsorger, einer, der die Not sah und handelte. Er setzte sich immer ein für die Ärmsten.
Er war in vielerlei Hinsicht eine widersprüchliche Person, oder?
SCHWARTZ: Ich würde es so sagen: Viele Menschen haben in ihm etwas sehen wollen, was er selber nicht sein wollte oder sein konnte. Er wollte nicht der große Reformer sein. Er wurde da gründlich missverstanden.
Was wollte er dann sein?
SCHWARTZ: Einer, der die Kirche zusammenhält.
Mit Blick auf manche seiner Entscheidungen – etwa die Erlaubnis, homosexuelle Paare unter bestimmten Umständen segnen zu dürfen – trat das Gegenteil ein. Es kam zu heillosen Debatten zwischen Katholisch-Konservativen und Reformorientierten. Ihm wurde vorgeworfen, die Kirche zu spalten.
SCHWARTZ: Er wollte die katholische Kirche in eine Gegenwart und Zukunft führen, in der eine globalisierte, eine vielfach zersplitterte, eine komplizierte Welt die Realität ist. Er hatte das sehr richtig erkannt. Sein Weg war der einer missionarischen Kirche, nicht länger der einer Kirche der Missionare. Nicht mehr allein Kleriker, nein, alle Getauften sollten seiner Ansicht nach die Frohe Botschaft weitertragen. Eine jede und ein jeder sollten verkünden, dass Gott den Menschen nahe ist. Das war überaus konkret gemeint. Er wollte „eine arme Kirche für die Armen“ – und darunter verstand er auch die geistig und spirituell Armen. Wie notwendig eine solche auf Spiritualität gegründete Haltung wäre, zeigt sich Tag für Tag: Unsere Welt ist aus den Fugen geraten, Ängste und Sorgen sind groß, und im Weißen Haus regiert ein wild gewordener Präsident – um nur dieses eine Beispiel zu nennen, das mir eben in den Sinn kommt.
Ist Franziskus das alles gelungen?
SCHWARTZ: Das weiß ich nicht, aber ich glaube, das war sein Antrieb.
In Deutschland erhoffte man sich von ihm spürbare Reformen wie die Abschaffung des Zölibats oder die Priesterweihe für Frauen. Franziskus gab zu solchen Hoffnungen immer wieder Anlass. Letztlich reagierten viele sehr enttäuscht auf ihn.
SCHWARTZ: Er war ein Papst der guten Anfänge und der guten Ideen, allerdings vermisste mancher den roten Faden. Zumindest konnte man ihn nicht immer erkennen. Man kann festhalten: Kein Papst hat so oft das Kirchenrecht geändert, kein Papst hat die Römische Kurie, die Vatikan-Verwaltung, in den vergangenen Jahrzehnten so stark verändert wie Franziskus – dennoch blieb mitunter der Eindruck, er sei dabei eher spontanen Einfällen gefolgt. Was die Reform-Erwartungen an ihn, gerade in Deutschland, betrifft: Wir haben ihn selektiv gehört. Wir haben das gehört, was wir hören wollten, und fanden uns dann bestätigt. Uns fehlte die nötige Ambiguitätstoleranz.
Das müssen Sie erklären.
SCHWARTZ: Die Fähigkeit, Vieldeutigkeit zu erkennen und auszuhalten. Franziskus äußerte sich oft mehrdeutig, wir aber hätten es lieber eindeutig haben wollen. Wenn er dann erklärte, er habe ja etwas anderes gemeint oder sei falsch verstanden worden, fühlten wir uns vor den Kopf gestoßen.
„Synodalität“ war eines der großen Schlagworte seines Pontifikats. Darunter verstanden wird das gemeinsame Voranschreiten innerhalb der Kirche unter Führung des Heiligen Geistes.
SCHWARTZ: Das ist in der Tat erstaunlich. Denn Franziskus war eigentlich kein synodaler Mensch, kein Teamplayer, wie man sagen könnte. Er war ein überaus autoritärer jesuitischer Ordensmann, das war seine Prägung. Und so hat er teilweise auf genau diese Weise versucht, seine Kritik an der Kurie in Kirchenpolitik umzuwandeln. Ihm war beispielsweise jede Form von Klerikalismus zuwider, insbesondere all jene, die sich in feinste Gewänder hüllten und ihr Amt nach außen hin überhöhten oder mit der ihnen anvertrauten Macht kokettierten. Es konnte passieren, dass er jemanden anrief und ihm beschied: „Du bist morgen nicht mehr in deinem Amt.“ Dem war dann auch so. Damit machte sich Franziskus vor allem in Rom einige Feinde; die Angst vor einem falschen Wort ihm gegenüber war verbreitet.
Trotzdem verordnete er der Weltkirche mit der Methode der Synodalität ein Prinzip des Miteinanders auf sämtlichen Ebenen.
SCHWARTZ: Ich erkläre mir das so: Er muss erkannt haben, dass sich die von ihm angestrebte tatsächliche Einheit der Kirche nur so herstellen lässt. Er wird intuitiv erfasst haben, dass die Kirche im dritten Jahrtausend ihrer Existenz einerseits nur noch als eine Kirche des Miteinanders und des Aufeinanderhörens eine Zukunft haben kann. Andererseits, dass sie wieder spiritueller werden muss. Überall dort, wo die Identität der Kirche einzig mit Macht und Machterhalt verbunden ist, verfehlt sie ihren Auftrag. Dagegen war Franziskus allergisch.
Am Ende der Weltsynode stand ein Dokument, dass viele Fragen offen ließ. Beispiel: Dezentralisierung. Nationalen Bischofskonferenzen oder einzelnen Bischöfen soll es überlassen werden, Fragen zu lösen.
SCHWARTZ: Es wäre wirklich spannend zu sehen, was geschehen würde, wenn ein Bischof ankündigen würde, er wolle verheiratete Diakone zu Priestern weihen. Das könnte Kurie und Papst zu einer Entscheidung bringen – und wer weiß, vielleicht lautet die Antwort irgendwann einmal: Warum nicht?
Wollen Sie damit sagen, dass Franziskus zwar nicht per Federstrich Reformen anordnete, aber für einen Geist der Erneuerung gesorgt hat?
SCHWARTZ: Ja, er hat einen Geist der Freiheit in die Kirche gebracht, den man zuvor nicht gewohnt war. Man kann zu der Interpretation gelangen: Franziskus hat dazu ermutigt, das zu tun, was nicht explizit verboten ist. Er dachte: Am Ende wird sich ohnehin durchsetzen, was Gottes Geist will. So steht es auch in der Bibel.
Wird sein Nachfolger diese Denkweise übernehmen?
SCHWARTZ: Vielleicht wird sein Nachfolger merken, dass das, was Franziskus losgetreten hat, nur in einem Dritten Vatikanischen Konzil geregelt werden kann, an dem auch Vertreter der orthodoxen Kirchen oder der Kirchen der Reformation beteiligt werden könnten. Bei aller Freiheit des Denkens, die Franziskus beförderte, braucht es möglicherweise doch einheitsstiftende Verbindlichkeit.
So betrachtet wäre Franziskus ein neuer Johannes XXIII., der 1959 das Zweite Vatikanische Konzil einberufen hatte, das die katholische Kirche teilweise grundlegend veränderte ...
SCHWARTZ: ... und sein Nachfolger wäre, spinnt man den Gedanken weiter, möglicherweise ein neuer Paul VI. – ein Paul VII. Nach dem Tod von Johannes XXIII. war Paul VI. der eigentliche Konzilspapst, er führte das Konzil fort und setzte eine Reihe der dort beschlossenen Reformen um. Eine der bekanntesten ist vermutlich die, dass der Priester im Gottesdienst zum Kirchenvolk hin spricht.

Zur Person
Der gebürtige Pfälzer Thomas Schwartz, 60, wurde 1990 vom späteren Kardinal Karl Lehmann zum Priester geweiht. Seit Oktober 2021 ist er Hauptgeschäftsführer von Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. Dessen Sitz befindet sich in Freising. Bundesweit bekannt wurde Schwartz, der in Augsburg lebt, durch seine gemeinsamen TV-Auftritte mit dem Astrophysiker Harald Lesch. Schwartz nahm im vergangenen Jahr an der Weltsynode in Rom als Gast teil. Das Bischofstreffen zum Thema „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“ war als vierjähriger Prozess angelegt. Das Abschlussdokument vom Oktober 2024 wurde von Papst Franziskus als Teil seines „ordentlichen Lehramtes“ bestätigt.
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