
Das letzte Urteil ist gefällt: Gerichtsdirektor Henle nimmt Abschied

Plus Zehn Jahre repräsentierte Walter Henle als Amtsgerichtsdirektor in Günzburg den Rechtsstaat. Unaufgeregtheit und Sachkompetenz kennzeichneten sein Handeln. Jetzt geht er.

Die Gefahr ist nicht mehr auszuschließen: "Es kann sein, dass ich an trüben Sonntagen auch mal vor der Glotze sitze." Das sagt Walter Henle, wenn er seinen Blick in die Zukunft richtet. Er wird sich umgewöhnen müssen. Denn der 65-Jährige hat in wenigen Tagen nicht mehr im Amtsgericht Günzburg seinen Arbeitsplatz. Er spricht im Namen des Volkes nicht länger Urteile, die er dann in aller Regel zu Hause an den vielen zurückliegenden Sonntagen mithilfe eines Sprachcomputerprogramms in Schriftform gebracht hat. Wie verbringt er seine letzten Tage am Amtsgericht?
Am vergangenen Montag hat Henle die letzten Fälle in seiner beruflichen Laufbahn verhandelt. Unspektakulär, unaufgeregt, abgewogen, sachorientiert. Menschlich. Das war seine Art. In einer Verhandlung ging es nach Henles Einschätzung um einen jungen Mann, der sich des Internetbetrugs in vier Fällen schuldig gemacht und Mobiltelefone vertickt hatte, die es in Wirklichkeit gar nicht gab. Um die 400 Euro lag der Schaden insgesamt. Da der wohnsitzlose Mann zur Hauptverhandlung nicht erschienen war, erließ Henle Haftbefehl. Vorvergangenen Mittwoch wurde der mutmaßliche Betrüger aufgegriffen und kam in die Justizvollzugsanstalt Kempten.
In seiner letzten Verhandlung hört Walter Henle eine Frechheit, die ihn schmunzeln lässt
Der Richter legte den Turbogang ein, wollte die Sache noch zu Ende bringen. Schnell wurde der Pflichtverteidiger bestellt, der auf sämtliche Fristen verzichtete. Fünf Tage später saß der Heranwachsende im Günzburger Gerichtssaal. Henle erließ gegenüber dem mittellosen Angeklagten nach Jugendstrafrecht eine Betreuungsweisung (regelmäßige Meldung bei der Jugendgerichtshilfe) und schloss das Verfahren mit der Auflage, dass der Mann sich außerdem in der Wärmestube meldet. Als der Amtsgerichtsdirektor davon sprach, dass dies nun sein endgültig letzter Fall gewesen sei, "ist der Angeklagte frech geworden", sagt Henle. Frech? Inwiefern? "Er hat gesagt, dass dann ja nicht mehr viel kommen kann." Äußerlich hat sich Walter Henle nichts anmerken lassen, aber tief im Inneren "habe ich geschmunzelt".
Wenn der Handymann wüsste! Einen Tag nach dem letzten aktiven Arbeitstag am 3. Februar und nachdem das Büro komplett leer geräumt worden ist, besucht Walter Henle eine Veranstaltung in der Münchner Ludwigs-Maximilians-Universität, in der über Studiengänge für Senioren informiert wird. Wenn es ihm taugt, wenn viele Online-Studienanteile angeboten werden, außerdem die Bahnfahrt nach München vom baden-württembergischen Landkreis Heidenheim aus (dort wohnt das Ehepaar Henle) zu günstigen Bedingungen möglich ist – ja dann könnte sich der Richter im baldigen Ruhestand ein Studium der Kunstgeschichte vorstellen. Die Pinakothek der Moderne wird er jedenfalls in der bayerischen Landeshauptstadt besuchen, wenn er sich übernächsten Samstag dort aufhält.
Direktor des Amtsgerichts Günzburg geht: Eigentlich wollte er Bürgermeister werden
München ist Walter Henle nicht unbekannt, denn dort hat er Jura studiert. Damals übrigens nicht mit der Absicht, im Justizdienst des Freistaats zu landen und über 40 Jahre zu bleiben. "Eigentlich wollte ich Bürgermeister werden", sagt er und begründet damit sein Interesse, ursprünglich Öffentliches Recht studieren zu wollen. Praktisch konnte er sich einiges von seinem Vater abschauen, der Bürgermeister in Nattheim war.
Ungefähr ein halbes Jahr dauert es, bis die Note für das zweite Staatsexamen bekannt wird. Eine lange Zeit für einen jungen Menschen, dem sich mit einer guten Zensur auch viele Möglichkeiten auftun. Der heimatverbundene Henle wollte nicht abwarten und bewarb sich für den Bürgermeisterposten von Neresheim. "Ich denke schon, dass ich das geworden wäre", sagt er im Rückblick. Doch so weit ist es nicht gekommen. Er zog die Bewerbung zurück, als die Staatsnote vorlag, die "ziemlich gut" gewesen sei. 1985 wurde er Proberichter im Amtsgericht Günzburg, das noch 30 Jahre in beengten Verhältnissen im Günzburger Schloss untergebracht sein sollte. Zweimal verließ er das Gericht, um Posten in den Staatsanwaltschaften Augsburg, Neu-Ulm und Memmingen anzunehmen (was üblich in dieser Laufbahn sei), ehe Henle Richter und später stellvertretender Amtsgerichtsdirektor in Günzburg wurde. 2013 schließlich folgte die Beförderung zum Direktor.
Was Walter Henle am Donnerstag seinem Nachfolger gesagt hat
An diesem Donnerstag hat er seinem Nachfolger, der in Justizkreisen bereits bekannt, aber noch nicht ernannt ist, das Günzburger Amtsgericht gezeigt. 2016 war das 16,2 Millionen Euro teure, moderne Gebäude (Passivhausstandard, höhenverstellbare Schreibtische für alle rund 70 Mitarbeitenden) bezugsfertig. Viel musste auch Henle für gute Lösungen tüfteln. Was ihm wichtig ist, hat er an den künftigen Direktor weitergegeben: Dazu gehört ein gutes Betriebsklima – und damit ist nicht die Temperatur in den Büros gemeint; eine Justiz, die nach außen repräsentiert und sichtbar wird; und die Öffnung des Gebäudes für die Kunst. Denn dann seien auch Menschen im Haus, "die kommen wollen und nicht kommen müssen".

Die Besuche möglichst vieler Museen, Reisen und ausgiebige Rennradtouren werden künftig die Zeit des dreifachen Vaters und Familienmenschen Henle ausfüllen. Und die ausgiebige Beschäftigung mit seinen Enkelkindern. Zwei sind bereits da, das dritte ist angekündigt.
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