
Die Aura eines großen Geigers

Die seltene Gelegenheit, einer bedeutenden Persönlichkeit, einem universellen Musiker, zu begegnen, ließen sich die Konzertfreunde aus weitem Umkreis nicht entgehen. Zum zweiten Mal gastierte Gidon Kremer mit seinem Kammerorchester Kremerata Baltica im Kolleg in Illertissen, wo eine Woche lang für eine große Auslandstournee geprobt worden war.
Mit geradezu fanatischem Drang hat der Altmeister seit seinem kometenhaften Aufstieg nach den Studien bei David Oistrach immer wieder um interpretatorische Ideallösungen gerungen. Folgerichtig offenbarte er auch im neuesten Konzert eine Fülle differenziertester Klangfarben. Das Programm bezog sich zum Teil auf Bach und sein aus dem Verständnis heutiger Hörer betrachtetes universelles Werk.
Glühende Bekenntnisse zum Wohlklang
Zunächst stellten 16 Musiker des Kammerorchesters ohne Dirigent das Streichsextett aus der letzten Oper von Richard Strauss, dem Konversationsstück "Capriccio", vor. Die von Heiterkeit, Altersweisheit und glühenden Bekenntnissen zum Wohlklang erfüllte Partitur erstand trotz trockener Saal-Akustik durch die enorme Intensität der Interpreten in echt Straussschem Klangschwelgen.
Riesiger Gegensatz danach: Volles Orchester samt Percussions-Instrumenten, die von der Stadtkapelle, dem Ulmer Theater, und von Holger Kopitz, Vibrafon, zur Verfügung gestellt worden waren. Mit Gidon Kremer als Dirigent und Solist entwickelten sich die großteils entmaterialisierten Töne der "Barcarole" von Victor Kissine quasi aus dem Nichts, um auch dorthin wieder zu verebben, nachdem sie sich zwischenzeitlich wie mit Naturgewalt massiv gesteigert hatten. Durch Klangfetzen, Tremolo in extremen Lagen und Cluster schilderte der Komponist das Entstehen oft seltsam erdfern wirkender Musik. Kremer wartete mit einer Fülle bogentechnischer Raffinessen auf und stellte schwerelos Schwebendes neben eine von wilder Robustheit fast berstende Kadenz. Besondere Erwähnung verdient die Präzision, mit der das Ensemble den Intentionen Kremers folgte, der wie eine Vaterfigur seinen inzwischen zu großartigen Könnern herangereiften ehemaligen Schülern voranstand.
Der zweite Teil stand unter dem Gesichtspunkt "Hommage an Bach". Mehr noch, Bach sollte aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden: Wie ihn der berühmte Pianist Glenn Gould, dessen zum Teil extreme Deutungen Kultstatus genießen, gewissermaßen von innen her durchleuchtet hat. Eine an Bach gemahnende Solosonate von Valentin Silvestrov, der Gidon Kremer mit sattem Strich Profil gab, klang sphärisch nach.
Dann bearbeiteten die Komponisten Georgs Pelecis, Alexander Raskatov, Carl Vine, Giya Kancheli, Leonid Desyatnikov, Stevan Kovac Tickmayer, Victor Kissine und die Komponistinnen Victoria Poleva und Raminta Serksnyte Zitate aus bekannten Klavier- und Instrumentalwerken Bachs in zeitgemäßer Form als Gesamtwerk. Das Ganze fußte auf der Form der "Goldberg-Variationen", deren berühmte "Aria" Anfang und Ende bildete. Glenn Gould hatte mit seinem unnachahmlichen Fingerspiel den Einzelstimmen innerhalb des Fugengewoges Leben eingehaucht oder sie plakativ hervorzuheben gewusst. Mit unterschiedlichen Techniken, darunter col-legno-Spiel, durch langsame Triller und durch rhythmisch akzentuiertes Spiel erreichten die Ausführenden ähnliche Wirkungen wie er. Die Bearbeiter beriefen sich indessen teilweise auch auf Anton von Weberns Bachadaptionen und bezogen Schönbergklänge ein.
Vor allem überzeugte Kremers Ernsthaftigkeit und Überzeugungskunst. Sein Ton hat zwar nicht mehr ganz die Strahlkraft früherer Jahre, aber die Tiefe der Aussage nichts eingebüßt. Sein Orchester erwies sich neben überlegenem Können als erstaunlich geschmeidig, agierte pointiert und stilsicher. Vielschichtig betrachtet offenbarte das Werk Bachs so seine unermessliche Größe und erschloss sich manchem Hörer in ganz neuem Licht.
Die von der großartigen Leistung der Ausführenden begeisterten Zuhörer erklatschten sich noch ein Werk von Astor Piazzolla.
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