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Sommerserie - Tag 2: Regending, Römerhof und andere Raritäten

Sommerserie - Tag 2

Regending, Römerhof und andere Raritäten

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    Der zweite Tag an unserem mobilen Schreibtisch
    Der zweite Tag an unserem mobilen Schreibtisch Foto: Michael Schreiner

    Auf dem Schreibtisch liegen drei alte Postkarten, die das Hochfeld zeigen. Daneben Stadtpläne, quadratische Fotos, eine Jutetasche, unsere Stenoblöcke, zwei Kameras, ein Bonbonglas, ein gerahmtes Bild aus Namibia – und ein aufgeschlagenes dickes Buch mit historischen Eisenbahnfotos. Ein schönes Durcheinander. Dazwischen wischen Zeigefinger hin und her, bewegen sich Hände, ist Lachen zu hören und Stimmen aus allen Richtungen. Unterm Vordach der Kerschensteiner Schule summt und wuselt es an diesem Nachmittag wie in einem Bienenstock. Es brummt der 41er-Bus vorbei, später das Müllauto – doch das nimmt kaum jemand wahr. Zu fesselnd ist der Austausch unter den Leuten, die ihren Stadtteil, ihr Hochfeld hier beschwören.

    Der zweite Dienstag mit „Kultur aus der Hochfeldstraße“ ist, dem grauen Himmel zum Trotz, zunächst ein großer Spaziergang durch eine gemeinsam zusammengetragene Fotoausstellung. Und außerdem führt später noch ein tatsächlicher Spaziergang durch den Stadtteil. Etwa 25 Leute begleiten den ehemaligen WBG-Chef Edgar Mathe durchs Hochfeld auf eine launige und kundige Entdeckungstour.

    Zwei Lokführer sind gekommen – beide Experten und intime Kenner der Eisenbahngeschichte des Hochfelds, das mit seinem Bahnbetriebswerk (heute: Bahnpark) einmal einen der größten Arbeitgeber weit und breit beherbergte. Ernst Erhart weiß es genau. Er war früher der Chef des Betriebswerks. Und heute zitiert er aus einem dicken Buch zur Eisenbahngeschichte Augsburgs: Auflage 10 Exemplare. Der Verfasser: er selbst. Dort steht es: 1926 arbeiteten 572 Leute bei der Bahn im Hochfeld, 1983, zur absoluten Hochzeit, waren es 1209. 1209 Eisenbahner – darunter 500 Lokführer! Einer von ihnen war Günter Thiel, der sich für Erharts Folianten der Erinnerungen besonders interessiert. „Eisenbahner war ich!“ – so stellt Thiel sich vor, „1943 hab’ ich als Lehrling da drüben angefangen“. Doch nun sei er doch seit 37 Jahren im Ruhestand. Kein Hörfehler. 37 Jahre. Thiel sagt, sie haben ihn früher heimgeschickt, „Herzkasperl, wissen Sie.“ Nun ist er 87 – und freilich kennt er das Zigarrengeschäft Regending noch.

    Drei alte Fotos vom Tabakladen

    Was für ein Name: Regending. Reine Poesie. 40 Jahre, von 1928 bis 1968, führte Gertrud Kleins Vater das Geschäft an der Ecke Hochfeldstraße/ Schertlinstraße. Anfangs nur Rauchwaren, später auch Lotto-Totto, sagt Frau Klein, geborene Regending, und zeigt drei alte Fotos des Ladens. Freitags half sie oft mit im Geschäft. „Wenn mein Vater Länderspielkarten hatte, stauten sich die Leute bis raus auf die Straße“, erzählt sie – „was meinen Sie, was sich da alles abgespielt hat.“

    Ja, die alten Zeiten … Zu denen gehörte auch dies: „1958 haben wir im Hochfeld geheiratet“, erinnert sich Gertrud Klein. „Da hat der Pfarrer meinem Mann, der war ja katholisch, einen bösen Brief geschrieben: Es ist eine Todsünde, eine Evangelische zu heiraten, er solle sich schämen …“ Ja, das mit der Religion, das war damals noch streng, wissen auch andere. Der erste Hausmeister der Kerschensteiner Schule, der habe zwei Töchter gehabt, evangelisch, und die hätten erst nicht auf diese Schule hier gehen dürfen, sondern mussten auf die Rote-Tor-Schule, als Evangelische – „bis der Vater sie irgendwie katholisch gemacht hat, ich weiß nicht mehr wie.“

    Die Menschen, die zu unserem mobilen Schreibtisch kommen, haben selbst erlebt, wie ihr Stadtteil sich verändert hat. Früher gab es zum Beispiel diese alten Holzhäuser. In einem wohnte Hildegard Olaletan-Keller als Kind. Die Räume, die Zimmer, sie hat alles noch vor dem inneren Auge. „So etwas vergisst man nie“, sagt sie. Das Haus ihrer Kindheit war weniger beständig als die Erinnerung. Es musste vor Jahrzehnten einem Neubau weichen.

    Manfred Floußek verbrachte Kindheit und Jugend im Hochfeld, 1978 ist er weggezogen. „Es war eine behütete Zeit. Vom Balkon aus sah ich den Bauern, der die Koppel umsetzte mit den Schafen. Wir haben als Kinder nichts vermisst. Man hat sich gekannt im Haus und in der Nachbarschaft.“ Was machte man als Jugendlicher? Was war kulturell geboten? „Da lief viel über die Kirchen, über die Jugendarbeit. Es gab Themenabende in Paul-Gerhardt und Programm. Am meisten besucht aber waren immer die Parties, die Disko im Gemeindesaal.“

    Als der Sparkassenmann in die Schule kam

    Auch in Afrika, in Namibia, gibt es ein Hochfeld. Steht auf einem Straßenschild, irgendwo zwischen Windhuk und einem Ort, der mit O beginnt. „C31 Hochfeld“. Peter Meidele hat das Foto dabei, das daheim bei ihm im Hausflur hängt. Was es mit unserem Hochfeld zu tun haben könnte, hat er nicht herausgefunden. Die Nebenleute reden gerade von den Wannenbädern, die es noch im Verwaltungsgebäude 1 des Bahnbetriebswerks gab in den 1950er Jahren. „Mit Bademeister!“ Da konnten die Leute für 50 Pfennig ein Vollbad nehmen, viele Wohnungen hatten ja kein Bad damals. Und kennt noch jemand den Sparkassenmann? Peter Meidele wird das nie vergessen, wie die ganze Klasse in der Schule aufstand und geschlossen rief: „Grüß Gott Herr Sparkassenmann!“ Dann trat jeder mit der Spardose vor, der Sparkassenmann leerte, zählte, trug sogleich ins Sparbuch ein …

    Gegenüber der Schule steht seit mindestens 20 Minuten eine Frau, die von der anderen Straßenseite herübersieht und sich immer wieder über eine auf einem Stromkasten liegendes Buch beugt. Als sie zum Schreibtisch kommt, klärt sich das auf: Claudia Hillebrand-Brem zeichnet – sie zeigt die Doppelseite, die eben entstanden ist. Kerschensteiner Schule, unser blauer AZ-Schirm, Leute um den Schreibtisch. Hillebrand-Brem gehört zur Bewegung des „Urban Sketching“, die weltweit ihre vor Ort entstehenden Zeichnungen austauschen. Regel Nummer 1: „Wir zeichnen vor Ort, drinnen oder draußen, nach direkter Beobachtung.“ Der Beweis liegt auf dem Tisch. Mehr gibt es ab heute in einer Ausstellung im „Druckspatz“ in der Barfüßerstraße zu sehen.

    Der zweite Tag im Hochfeld 

    Währenddessen erzählt Edgar Mathe, wie das im Hochfeld alles miteinander zusammenhängt. Weil die Ulm-Strecke von Oberhausen bis zum Augsburger Bahnhof geführt wurde, musste das Bahnbetriebswerk ins Hochfeld weichen. Und die vielen Arbeiter dort benötigten Wohnungen. Mathe gelingt es immer wieder, alle zu überraschen. Denn er kennt nicht nur die Geschichte der Häuser, für die er als Ex-Chef der Wohnungsbaugesellschaft Augsburg zuständig war, er weiß auch, wie es sich früher dort gelebt hat – in direkter Nachbarschaft zu den Gleisen. Die Menschen arbeiteten für die Eisenbahn, die Menschen arrangierten sich mit der Eisenbahn. Augenzwinkernd beschreibt Mathe, wie das Augsburger Grau erfunden worden sei: „Beim Wäschetrocknen, wenn der Ruß in großen Flocken vom Betriebswerk herüberwehte.“

    In Mathes WBG-Zeit fiel der politisch umstrittene Abriss und Neubau des Römerhofs. Da waren die Gemüter unglaublich emotionalisiert. Bis heute steht er voll und ganz hinter der damaligen Entscheidung. „Der Zustand des Baus hat keine andere Möglichkeit gelassen.“ Der alte Römerhof wurde abgerissen, ein neuer Römerhof wurde von der WBG gebaut. Drei Jugendliche im Hof nutzen die Situation mit den vielen Zuhörern für ein Statement der anderen Art: „Scheiß Hochfeld“ – „Äh, wie bitte?“ – „War nur Spaß.“ Klingt rau, der Umgangston heute. Passt aber auch zum Hochfeld, diesem Arbeiterviertel, in dem die Leute so gern leben.

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