Wer als Dichter mit 28 Jahren stirbt, dem war nicht viel Zeit beschieden, sich einzuschreiben in das Kollektivgedächtnis, auf dass es sich auch mehr als zwei Jahrhunderte später noch erinnern möge an den Autor und sein Werk. Ein Handicap, das anhaltenden Einfluss auf die Wahrnehmung von Novalis hat. Wer – selbst unter den Liebhabern literarischer Klassiker – wagt heute noch die Lektüre von dessen „Heinrich von Ofterdingen“-Roman, wer hat je einen Blick in die „Hymnen an die Nacht“ getan, ganz zu schweigen von Novalis’ philosophisch-spekulativen Schriften?
Und doch haftet wenigen anderen Namen der deutschen Literatur eine solch unverbrüchlich markante Aura an, als dass nicht jedem, der sich ein klein wenig für die Poesie- und Geistesgeschichte diese Landes interessierte, bei Nennung von Novalis sofort die Zuordnung zur frühen Romantik gelänge. Und zugleich vermutlich zu ihrem bekanntesten Symbol: der blauen Blume, jenem mystischen Bild, das Novalis in eben jenem „Heinrich von Ofterdingen“ entwirft und das zum Synonym geworden ist für ein nie so ganz zu fassendes, aber auch nie nachlassendes Streben nach dem Allumfassenden, für romantische Sehnsucht eben.
Und wenn von romantischem Überschwang und Träumerei, von Schwärmertum und von Taugenichtstaten die Rede ist und man sich ein Bild machen will von diesen zart empfindenden und kunstliebenden Jünglingen, wie sie die Texte der Romantiker durchziehen, dann stellt sich, einmal gesehen, immer dieses Gesicht ein, das weiche, fein geschnittene, feminine Züge trägt, gerahmt von schulterlang fallendem Haar, darunter zwei ausdrucksstarke dunkle Augen – das Konterfei von Novalis, wie er auf einem Ölgemälde festgehalten ist, Prototyp eines „romantischen“ Menschen.
Aus altem Adelsgeschlecht
Tatsächlich ist die deutsche Romantik nicht denkbar ohne die Gestalt des Friedrich von Hardenberg, der sich erst später das Pseudonym Novalis – der Neuland Bestellende – gab. Geboren vor 250 Jahren, am 2. Mai 1772 auf dem Familiengut Oberwiederstedt im Vorland des südlichen Harzes, entstammt er einem alten Adelsgeschlecht. Die Neigung zur Poesie offenbart sich früh, doch der Vater rät zur Aufnahme eines Brotberufs, und der junge Friedrich folgt und beschließt, Jura zu studieren. An der Universität in Jena aber hört er Schillers geschichtsphilosophische Vorlesungen und findet Zugang zu einem Kreis literarischer und philosophischer Köpfe, von denen ihm insbesondere einer zum Freund wird: der gleichaltrige Friedrich Schlegel. Dieser wie auch sein Bruder August Wilhelm (berühmt geworden durch seine Shakespeare-Übersetzungen) erkennen das poetische Talent, Friedrich wird zu Novalis (unter dem Pseudonym tritt er freilich erst 1798 hervor), dichtet und philosophiert – und bringt doch auch sein Jurastudium zu Ende.
Im Thüringischen findet er eine Anstellung, hier kommt es zu einer Begegnung, die für Novalis die entscheidende seines Lebens ist. Der 22-Jährige verliebt sich in die zehn Jahre jüngere Sophie von Kühn, die Hinwendung beruht auf Gegenseitigkeit, man verlobt sich, doch Sophie erkrankt und stirbt wenige Tage nach ihrem 15. Geburtstag.
Um den Verlust zu bewältigen, verlegt Novalis sich auf die Naturwissenschaften, insbesondere auf eine, die seiner Gestimmtheit am nächsten kommt, den Bergbau, wofür er ein neuerliches Studium aufnimmt.
Die Begegnung mit der Welt untertage prägt von nun an auch sein literarisches Werk. Die „Hymnen an die Nacht“ entstehen, Gedichte, die formal zwischen Lyrik und Prosa oszillieren und inhaltlich die Dunkelheit feiern in dem Sinn, dass hier eine Sphäre möglichen Lebens jenseits der Geschäftigkeit des Tages sich eröffnet. Die Nacht ist bei Novalis kein Zu-Ende-Gehen, kein Eintritt in das Nichts, vielmehr erscheint sie als nicht weniger reichhaltige Gegenwelt zur Sphäre des Lichts, und das gilt auch für die Nacht, der kein Morgen mehr folgt, für den Tod.
Wo die "wahren Weltgeschichten" zu finden sind
Für Novalis lautet die Konsequenz: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“. Damit formuliert er keineswegs nur ein persönliches Empfinden, sondern unbewusst zugleich so etwas wie ein Programm der Romantik. Denn im Nachgang der Aufklärung hat sich ein Unbehagen an Entwicklungen der Zeit ergeben, nicht nur am Terror im Gefolge der zuvor bejubelten Französischen Revolution, sondern auch an der Überzeugung der Fortschrittsgläubigen, die Natur bis ins Letzte durchdringen und unterwerfen zu können. Von der Überwindung dieses als defizitär empfundenen Zustands spricht Novalis’ wohl berühmtestes Gedicht: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen …“ Zugang zu den „wahren Weltgeschichten“, so heißt es im Weiteren, biete sich unter anderem „in Märchen und Gedichten“, denn: „Dann fliegt vor einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort.“
Der Weg aus einer kalt und nüchtern empfundenen Tageswelt geht also nach innen, und er geht zugleich zurück in eine Welt, die noch der Fantasie und der Verzauberung großen Raum zuwies, für Novalis ist es das – mehr oder weniger selbst fantasievoll entworfene – Mittelalter. Hier siedelt der Dichter seinen einzigen (Fragment gebliebenen) Roman „Heinrich von Ofterdingen“ an, und gleich zu Beginn träumt der Titelheld von sich selbst, dass er durch Klüfte und Höhlen steigt und auf einer Wiese schließlich eine blaue Blume erblickt, deren Inneres sich dem Träumenden als Mädchengesicht darbietet – ein Sehnsuchtsgesicht, dessen Suchen und Finden den weiteren Handlungsgang bestimmt (der, das sei am Rande vermerkt, unter anderem ins mittelalterliche Augsburg führt …).
Das Mittelalter-Faible der Romantiker, keineswegs nur bei Novalis, war schon einigen Zeitgenossen nicht geheuer, wähnte man doch das durch die Aufklärung Überwundene in neuem Anlauf. Das betrifft vor allem das Verhältnis zur Religion. Auch Novalis, philosophiegeneigt wie die gesamte frühe Romantik, setzt sich mit dem Glauben auseinander, und das nicht nur in seinen „Hymnen an die Nacht“. Er beklagt die „Vertrocknung heiligen Sinns“ im Lauf des Geschichtsfortschritts, verfolgt in „Die Christenheit und Europa“ diese Entwicklung zurück und entwickelt eine Utopie, in der die Religion zum einigenden Band für das vielfach zersplitterte Europa wird. Für Novalis besitzt der Weg „nach innen“ durchaus auch eine äußere, politische Zielrichtung.
Als Friedrich von Hardenberg, von frühen Tagen an kränklich und hauptberuflich inzwischen mit der Kartierung der mitteldeutschen Braunkohlevorkommen befasst, am 25. März 1801 in Weißenfels an einem Blutsturz stirbt, sind nicht wenige seiner Dichtungen und Schriften noch unfertig, anderes ist erst gar nicht über die Planung hinausgekommen. Auch wenn die Romantik prinzipiell ihre Freude am Fragmentarischen hatte, manches bewusst unfertig ausführte: Dass Novalis mit diesem schicksalhaften Ende selbst in die Sphäre des nicht Abgeschlossenen, nie fertig Erzählten und der auf ewig offenen Fragen geraten ist, macht nun wahrlich nicht den geringsten Teil der Faszination dieses literarischen Neulandbestellers aus.