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Interview: Historikerin: "Unterstützung für Putin ist nicht in Stein gemeißelt"

Interview

Historikerin: "Unterstützung für Putin ist nicht in Stein gemeißelt"

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    Irina Scherbakowa, Menschenrechtsaktivistin aus Russland und Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, kommt zum Brechtfestival 2024 nach Augsburg.
    Irina Scherbakowa, Menschenrechtsaktivistin aus Russland und Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, kommt zum Brechtfestival 2024 nach Augsburg. Foto: Hannes P Albert, dpa

    Frau Scherbakowa, was hat Sie Ende der 1980er-Jahre dazu gebracht, an die Opfer der Stalin-Diktatur zu erinnern und Gründungsmitglied von Memorial zu werden?
    IRINA SCHERBAKOWA: Ich habe mich schon immer mit Geschichte beschäftigt. Mich interessierte die Geschichte des Dritten Reichs und des Nationalsozialismus, aber auch die Geschichte der politischen Repressalien, die Geschichte der Gulags. Als ich ein junger Mensch war, war diese Geschichte ein absolut schwarzes Zimmer der Vergangenheit in der Sowjetunion. Es war verboten, darüber zu schreiben. Mir war klar, dass es wichtig war, etwas über diese Vergangenheit zu wissen.

    Warum? 
    SCHERBAKOWA: In fast jeder Familie gab es Opfer der staatlichen Repression. Es war ein Thema, das alle anging. Aber man wusste sehr wenig über das Schicksal der Einzelnen und das ganze System dahinter. Das war bis zur Perestroika ein Staatsgeheimnis. Die Perestroika begeisterte viele Menschen. Viele hatten begriffen, dass das Land Veränderungen und Reformen benötigte. Um damit anzufangen, musste man mit der Vergangenheit Schluss machen.

    Wie groß war das Bedürfnis der Menschen, diese Geschichte zu erforschen? 
    SCHERBAKOWA: Es war Ende der 1980er-Jahre die stärkste gesellschaftliche Bewegung in der Sowjetunion. Von der Notwendigkeit der Aufarbeitung waren viele Menschen überzeugt. Zur Gründungsversammlung Ende Januar 1989 kamen über 1000 Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion. 

    Memorial gab es als Organisation in Russland von der Perestroika bis 2022. Dann kam das Verbot in Russland. Wie hat Ihre Organisation diese Zeit mitbekommen und erfahren? 
    SCHERBAKOWA: Die kurze Fassung geht so. Unsere Organisation setzte und setzt sich nicht nur für die Erforschung der Geschichte ein, sie sammelt nicht nur in den Archiven Informationen über Biografien von Opfern, unsere Organisation beschäftigt sich auch mit den Menschenrechten, auch mit akuten Menschenrechtsverletzungen. Das war ein Stolperstein. Als der Krieg um Tschetschenien begann, im Dezember 1994, benannten unsere Menschenrechtler die massiven Verbrechen der russischen Armee. Das stieß auf Widerstand des Militärs. Aber es waren trotzdem andere Zeiten. Wir konnten noch für die Offenheit kämpfen und dort Beweise sammeln. Die historische Aufarbeitung wurde damals vor allem dadurch verhindert, dass wir wenig Geld hatten. Das Land war ja pleite. Parallel dazu kam eine große Nostalgie im Land auf, die die Aufarbeitung der schwarzen Seite der Geschichte verhinderte. Nach Putins Machtantritt 2000 gab es eine eindeutige Wende in der Geschichtspolitik.

    Inwieweit? 
    SCHERBAKOWA: Mehr und mehr ging es in Richtung Nationalismus und Stolz auf die russische Geschichte. Da war die Memorial-Tätigkeit zwar zugelassen, aber unerwünscht. Das verschärfte sich. Letztendlich wurde Memorial im Jahr 2016 zum ausländischen Agenten erklärt. Am Vorabend des Ukrainekrieges, im Dezember 2021, wurde Memorial durch einen Beschluss des Obersten Gerichts Russlands liquidiert.

    Was passiert in einem Land, das sich nicht an die Verbrechen in Zeiten der Diktatur erinnern will? 
    SCHERBAKOWA: Es ist kompliziert. Es ist nicht das Land, sondern der Staat, der sich nicht erinnern will. Das ist ein Unterschied. Wie Putin historisch denkt und was daraus politisch für ihn folgt, der Stolz auf die Geschichte, die Angriffe auf den Westen, die Ressentiments, das wurde in dem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson noch einmal deutlich. Im Land äußert sich das stark durch die Propaganda und Indoktrinierung, etwa durch das verstaatlichte Fernsehen.

    Wie wirkt sich das auf die russische Gesellschaft aus? 
    SCHERBAKOWA: Das sehen wir jeden Tag. Sie hat die Diktatur zugelassen. Sie hat den Krieg zugelassen. Es gibt praktisch das Verbot des freien Worts und eine Wiedereinführung der Zensur. 

    Haben Sie Hoffnung, dass sich in Russland am politischen System etwas ändern könnte? 
    SCHERBAKOWA: Wir sehen immer wieder Beispiele eines Widerstands. Es gibt verschiedene Formen, zum Beispiel Blumen an Denkmälern, die mit der Ukraine in Verbindung stehen. Im letzten Jahr haben Ehefrauen der einberufenen und mobilisierten Männer, die gegen die Ukraine kämpfen müssen, regelmäßig Aktionen organisiert. Das bedeutet nicht, dass sie alle gegen Putin und gegen den Staat sind, aber sie fordern ihre Männer aus dem Krieg zurück. Bei der sogenannten Wahlkampagne zur fünften Putin-Wahl gab es einen unerwartet großen Zulauf für Boris Nadeschdin, den quasi liberalen Gegenkandidaten, der sich aber gegen den Krieg ausgesprochen hat.

    Sie glauben, dass der Kreml mit weniger Unterstützung für Nadeschdin gerechnet hat? 
    SCHERBAKOWA: Man bekam Angst, dass sich das auch bei den Wahlen geäußert hätte. Deshalb wird er nun nicht zur Wahl zugelassen. Die Unterstützung ist nicht in Stein gemeißelt, wie es die Putin-Propaganda immer gerne darstellt. Aber es gibt keine Proteste und keine Proteststimmung, die für Putin und das Regime wirklich gefährlich werden könnten. Dafür ist die Zeit noch nicht reif. 

    Was bedeutet der Tod von Alexei Nawalny für Russland?
    SCHERBAKOWA: Der Tod von Alexei Nawalny ist für viele Menschen in Russland eine Tragödie. Wir können das auf Social Media beobachten; wir sehen das aber auch, weil viele Menschen Blumen an Denkmälern der Opfer von politischer Unterdrückung in mehrere Städten in Russland niederlegen. Man kann hoffen, dass Nawalny das stärkste Symbol des Widerstandes gegen Putins Regime bleibt - das war er nämlich.

    Jetzt kommen Sie zum Augsburger Brechtfestival. Grund dafür ist eine Memorial-Recherche, in der es um Carola Neher geht, die zum Brechtkreis gehört hat und ein trauriges Schicksal ereilte. Worum geht es da? 
    SCHERBAKOWA: Das ist eine alte Geschichte. Es geht um das Schicksal der Schauspielerin Carola Neher, einem Theaterstar der Weimarer Republik. Sie hat viel mit Brecht zusammengearbeitet. Wegen ihrer politischen Überzeugung musste sie vor den Nationalsozialisten fliehen. Sie kam 1934 in die Sowjetunion, wurde 1936 verhaftet und starb 1942 im Lager an Typhus. 

    Es gibt da Verknüpfungen nach Augsburg. 
    SCHERBAKOWA: Carola Nehers Sohn Georg wurde 1934 geboren. Als Neher ins Lager kam, wurden beide getrennt. Das Kind Georg Becker kam in ein Kinderheim. Als erwachsener Mann hat er durch einen Zufall erfahren, dass er ein Deutscher ist und seine Mutter im Gulag gestorben ist. Darauf begann er zu recherchieren. Anfang der 1970er-Jahre konnte Becker nach Deutschland ausreisen. Er war ein Musiker und Musikwissenschaftler und hat in Augsburg am Konservatorium unterrichtet. Während der Perestroika hat er mit mir und Memorial Kontakt aufgenommen, um mehr über das Schicksal seiner Mutter herauszufinden. Seit dieser Zeit ist Georg Beckers Geschichte ein Teil der Memorial-Geschichte geworden.

    Zur Person

    Irina Scherbakowa, 1949 in Moskau geboren, studierte Germanistik und Kulturwissenschaften. Sie gehörte 1989 zu den Gründungsmitgliedern von Memorial. Die Menschenrechtsorganisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, die politische Gewaltherrschaft historisch aufzuarbeiten, die Mechanismen der Machtausübung zu erforschen, an die Opfer zu erinnern. Gleichzeitig setzt sich Memorial für die Einhaltung von Menschenrechten ein. Scherbakowa hat im März 2022 Russland verlassen und lebt nun in Berlin. 

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