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Kunstmuseum Stuttgart: Ach diese Lust, diese entsetzliche Lust

Kunstmuseum Stuttgart

Ach diese Lust, diese entsetzliche Lust

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    Ein zum Foto geronnes Bacchanal: Eleanor Antins „Triumph of Pan“ (after Poussin), 2004.
    Ein zum Foto geronnes Bacchanal: Eleanor Antins „Triumph of Pan“ (after Poussin), 2004. Foto: R. Feldman Gallery New York, Eleanor Antin

    Es war ein Sommer der Hitze und der hitzigen Debatten. Egal ob Politik, Baubranche oder Sport: Noch immer entzündet ein falsches Wort, eine Abweichung von der Norm, eine nicht erfüllte Erwartung jenen Funken, der die Stimmung explodieren lässt. Kaum ein Thema, das derzeit nicht von Aufregung erfasst wird, bei dem die Emotionen kontroverser Parteien nicht hochkochen. Mit steigender Geschwindigkeit werden Rücktritte gefordert. Alles eignet sich zur Sensation. Und die ist nur einen Klick weit entfernt. In der momentanen Spaßgesellschaft bemisst der von Twitter und Co. dauerbeschallte Bürger, der nichts verpassen will, die Ereignisse nach dem Wert der Unterhaltung und nicht nach dem Wahrheitsgehalt.

    Wer will es geißeln, wenn bei abhanden gekommener Urteilskraft die Kochshow im TV und der kollektive Shitstorm als ebenso bedeutend eingeschätzt wird wie Demonstrationen gegen die Abholzung uralter Waldbestände und die Hetze wider deutsche Migrationspolitik? Ist Deutschland noch zu retten von dieser Massenhysterie? Auffallend ist, dass die ekstatischen Wellen der Vergangenheit eine andere Güte hatten. Genügten früher ein LSD-Trip, ein Sportfest oder ein Rockkonzert für zeitweisen Kontrollverlust, herrscht heute ein Dauerzustand des Außer-sich-Seins. Deutschland ist im Rausch. Wir haben es nur noch nicht gemerkt. Oder doch?

    Die Ekstase ist erwünscht - und wird heftig abgelehnt

    In Stuttgart ist man dem Phänomen schon auf der Spur: „Ekstasen sind so alt wie die Menschheit“, sagt Ulrike Groos, Direktorin des Kunstmuseum Stuttgart. Und ebenso lange setzen sich schon Künstler mit dem Phänomen auseinander, das sich durch alle Kulturkreise und Zeiten zieht und dabei kontroverse Bewertungen erhält – von Verlangen bis Ablehnung. In der Ausstellung „Ekstase“ im Kunstmuseum Stuttgart, die Groos gemeinsam mit Anne Vieth und dem freien Berliner Kurator Markus Müller konzipiert hat, zeigen über 230 Werke von der Antike bis heute, wie sich in der Kunst jenes Hochgefühl niederschlägt, für das Menschen über mentale und physische Grenzen hinaus gehen, um einen anderen Bereich der Wahrnehmung zu erleben. Das reicht vom antiken Kult des Dionysos, dem Gott des Weins und des Rauschs, über religiösen Taumel und Schamanismus, Gefühlswallungen beim Sport und in völliger Erschöpfung gipfelnde Tanz-Ekstasen bis zum Drogen- und Liebesrausch.

    So inszeniert die US-Fotografin Eleanor Antin in ihrem „Triumph of Pan“ ein ekstatisches Trinkgelage mit Pan und Gefolge und erregten Blicken (Bild oben). Lautes Feiern in der Natur und zur Schau gestellte Nacktheit bei Lovis Corinth und Pablo Picasso stehen im Gegensatz zur konservativen Welt, die Ausnahmezustände als Bedrohung empfinden. Nachvollziehbar demonstriert die gelungene Schau in einem sakral anmutenden Saal auch die Vorstellung der Verschmelzung von Gott und Mensch, wie sie Gianlorenzo Bernini mit seiner Theresa von Ávila darstellt, hier in Gipsabdruck des Gesichts und Rötelzeichnung. Verraten bei dieser Heiligen die Körperhaltung, die geschlossenen Augen und der geöffnete Mund die religiöse Verzückung, ist es bei Charles Lebrun und Jean Benner der typische „himmelnde Blick“, der mit entrückter Miene die Nähe zum irdischen Orgasmus anzeigt.

    Jeder darf sich auch einmalselbst in Trance versetzen

    Eigene Räume sind der afro-brasilianischen Religion des Candomblé und dem Schamanismus gewidmet. Die spirituelle Aufladung von Kunstwerken trifft auf Bewusstseinszustände, die durch psychedelische Pflanzen oder rituelle Tänze erweitert wurden. Neben Tanz-Ekstasen, bei denen mit Isadora Duncan und Mary Wigman die Protagonistinnen des Ausdruckstanzes im 20. Jahrhundert künstlerisch im Fokus stehen, ist ein großes Thema für extreme Emotionen der Sport, der aufgrund seiner suggestiven Kraft nicht selten für politische Systeme instrumentalisiert wurde und wird. Andreas Gurskys Großformat „Dortmund 2009“ mit 25000 Fans auf Europas größter Stehplatztribüne führt als gefürchtete „gelbe Wand“ vor Augen, wie sich gegnerische Torschützen fühlen, wenn ihnen rhythmische Fangesänge der in kollektive Ekstase versetzten BVB-Fans entgegenschallen. Mit Arbeiten wie der „Grünen Fee“ von Albert Maignan nimmt das Museum auch sexuelles Verlangen und den „Kleinen Tod“ in den Blick. In der Klang- und Lichtinstallation „Dream House“ von La Monte Young und Marian Zazeela kann sich schließlich jeder selbst in einem magentafarben ausgeleuchteten Raum in Trance versetzen.

    Ekstase im Kunstmuseum Stuttgart, Kleiner Schlossplatz 1. Laufzeit: bis 24. Februar 2019, dienstags bis sonntags und feiertags von 10 bis 18 Uhr, freitags bis 21 Uhr. Katalog: 39 Euro.

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