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Buchkritik: Im Kopf des wundersamen Dietmar Dath: Der irre, kluge Roman "Gentzen"

Buchkritik

Im Kopf des wundersamen Dietmar Dath: Der irre, kluge Roman "Gentzen"

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    Der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath, 51.
    Der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath, 51. Foto: Hanke Wilsmann

    Sie, ja, genau Sie, genau hier, beim Lesen dieses Artikels: Schön, dass Sie da sind! Denn damit ist eines von zwei Problemen schon überwunden. Nach Studien über Leserinnen und Leser einer Zeitung, aber auch im Internet, scheint nämlich klar: „Rezensionen mögen sie gar nicht.“ Und das ist hier halt, nun ja, so etwas wie eine Buchkritik. Fehlt nur noch zweitens: „Wenn sie nicht wissen, wer die Leute sind, um die es geht, steigen sie aus.“ Also: Kennen Sie Dietmar Dath?

    Hallo, noch jemand da? Dieser Autor, diese Figur wäre es, bekannt oder nicht, jedenfalls wert: einer der originellsten Journalisten und zugleich einer produktivsten Schriftsteller Deutschlands. Erstaunlich, wie und worüber der in der FAZ so alles schreibt, vom Superhelden-Kino bis zur Wissenschaftsgeschichte, manchmal der halbe Text in Klammern. Und erstaunlich, in welcher Frequenz beim ihm Science-Fiction-Roman auf Hegel-Essay auf politisch engagiertes Theaterstück folgt, oder so – das Auftauchen von Heavy Metal und Zombies dabei immer möglich. Im Mut zur Eigenwilligkeit originell, ohne Angst vor abseitigen Untiefen klug – so wirkt der 51-Jährige. Also umso erstaunlicher auch, dass Daths neuer Roman unter den 20 für den Deutschen Buchpreis nominierten Titeln ist. Aber andererseits gar nicht erstaunlich, wie empört der Autor war, als er bei der FAZ über jene Probleme der Leserinnen und Leser mit den Rezensionen und den unbekannten Leuten informiert wurde …

    Dietmar Daths neuer Roman: Ein Ritt in 140 Kapiteln über 600 Seiten

    In „Gentzen“ kommt all das zusammen. Denn der Dietmar Dath, der sich über diese trostlos erscannten Befunde über Lesende, Journalismus und die Kultur aufregt, er ist eine Figur in jenem neuen Roman des wundersamen Dietmar Dath. Und nicht nur, dass vollständige Artikel des Feuilletonisten nun auch dem Romancier ganze Kapitel liefern, dass sein genialischer Förderer und durchdrehender Chef Frank Schirrmacher einige Auftritte hat bis zu seinem plötzlichen Tod – mehr als ein Abbild des Erlebens des Autors ist das Buch ein Blick in seinen Kopf. Hin und her, in 140 sehr kurzen Kapiteln auf fast 600 Textseiten.

    Zum Beispiel kommen vor: dem Titel gemäß der Mathematiker und Logiker Gerhard Gentzen, gestorben 1945 in Prag, auf dessen historische Spuren sich die Romanfigur Dath mit zwei Freunden begibt, dessen richtungsweisende Gedanken der Autor Dath aber auch immer wieder zu erklären versucht. Der „bewies die Widerspruchsfreiheit des elementaren Rechnens unter Rückgriff auf die Wohlgeordnetheit einer Ordnung, die aus der Darstellung der Ordinalzahlen (erste, zweite, dritte …) durch den Erfinder der Mengen, Georg Kantor, hervorgegangen war. Unterwegs zu diesem Ergebnis erfand Gentzen für sich, weil er sie brauchte und es keine gab, die moderne strukturelle Beweistheorie, also eine Theorie, welche strukturelle (statt mathematisch inhaltliche) Aspekte formaler Theorien auf ihre Beweisbarkeit hin untersucht.“ Logische Beweisfunktionen heißen Kalküle, Dath nennt sein Buch einen „Kalkülroman“ …

    Äh, hallo, sind Sie noch da? Es wäre, wie im Roman selbst, der einen also schon mal überfordert, schade, wenn nicht. Denn so verpasste man, dass dieser Autor neben solchen theoretischen Höhen noch zwei ganz andere erreicht. Dath kann hinreißend szenisch schildern, ein kippendes Gespräch, ob beim Abendessen oder an der Front, eine Freundschaft auf der Kippe zur Liebe, sich selbst am Kipppunkt zwischen bohrendem Selbstzweifel und triumphaler Selbstbehauptung. Und er kann die Schärfe, mit der er die Gesellschaft zu analysieren vermag, in eine klug umgreifende Geschichte packen – hier im Kern etwa schon vom Jahr 1916 und der Kindheit Gerhard Gentzens reichend bis ins Jahr 2035, das Europa verwüstet und eine Multikulti-Truppe auf Mission präsentiert (die Ränder reichen noch 200 Jahre weiter zurück und noch 100 weiter voraus).

    Auch dabei: Augsburgs Theaterintendant Andre Bücker und Lady Gaga

    Zum Glück taucht dabei ab und an eine hinreißend kluge und klare Bettina auf, die auch ihrem Freunde Dietmar aufzeigt, was er eigentlich gerade sagen will. Zwischen all den anderen Auftretenden wie weiteren Logikern mit ihren Theorien, künftig wirklich werdenden Comic-Figuren; oder dem Intendanten des Augsburger Staatstheaters André Bücker, der griechischen Schicksalsgöttin Ananke – oder wieder Gerhard Gentzen, der mit Lady Gaga zu einem Konzert geht. Ein bisschen irre, ja. Und dabei schreibt Dath halt auch immer wieder diese Sätze, die man noch verstehen und über die man also auch nachdenken kann: „Genie ist die Überschreitung aller Erkenntniskriterien, die wir übrigen Leute vom Genie lernen.“ Oder er formuliert, worum alles gehen muss: „die Schließung der Lücke zwischen denen, die nichts zu essen haben, und denen, die sich nur metaphysisch leer fühlen. Der Krieg um die Lücke muss enden.“

    Wie daraus ein Roman werden soll? Etwa wie im Referenzwerk der Postmoderne, „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace: gar nicht! Es wird viel mehr daraus: Wirklichkeit. Die nämlich gibt es nur im individuellen Bewusstsein. Und in einem Kopf wie diesem wird das kenntlich. Aber, na ja: Ist ja bloß ein Buch – und wer kennt schon Dietmar Dath? Sein Untertitel lautet übrigens: „Betrunken aufräumen“. Das umschreibt ein abenteuerliches Denken, das hier auch zu erleben ist. Mit dem Menschen und der Logik jedenfalls, das ist, zumal in Zeiten des Scannens und Surfens, eher eine Geschichte des Niedergangs.

    Das Buch Dietmar Dath: "Gentzen – oder: Betrunken aufräumen", Matthes & Seitz, 604 Seiten, 26 Euro

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