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Interview: Ingo Schulze: „Ich fühle mich mitunter fremd im eigenen Land“

Interview

Ingo Schulze: „Ich fühle mich mitunter fremd im eigenen Land“

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    Ingo Schulze zu Hause in Berlin. Am Samstag, 7. März, stellt er sein neues Buch in der Augsburger Stadtbücherei vor.
    Ingo Schulze zu Hause in Berlin. Am Samstag, 7. März, stellt er sein neues Buch in der Augsburger Stadtbücherei vor. Foto: Gaby Gerster, Fischer

    Wir feiern heuer 30 Jahre Deutsche Einheit. Was würden Sie sagen: Wie geht es dem Land?

    Ingo Schulze: Es kommt darauf an, welche Maßstäbe oder Vergleiche wir anlegen. Was für uns selbstverständlich ist, ist es anderswo nicht, sei es Frieden, sei es Elektrizität, fließend Wasser und Heizung in unseren Häusern usw. Mit einem Blick auf die Lieferketten der Produkte, die wir konsumieren, muss man aber auch festhalten: Bei allen Unterschieden im Land geht es uns so gut, weil es anderen schlecht geht. Denken Sie nur an bestimmte Lebensmittel oder unsere Textilien, den Abbau von Rohstoffen oder das Auslagern besonders dreckiger Technologien. Legt man den nationalen Maßstab an, ist die soziale Ungleichheit ein Problem. Wer viel hat, bekommt in aller Regel immer mehr. Heute ist die Frage, wie viel ich verdiene, beinah weniger wichtig als die Frage, ob und wie viel ich erbe. In Berlin und anderen Großstädten kann man sich mit dem Verdienst aus eigener Hände Arbeit in den seltensten Fällen noch eine Eigentumswohnung kaufen.

    Wie viele heutige Probleme sind auch Folgen der allzu ungleichen deutsch-deutschen Wiedervereinigung?

    Schulze: Das ist nicht einfach, das West-Ost-Gefälle angemessen in die andere Problematik zu integrieren. Das eigentliche Problem lag und liegt darin, dass es 1990 den Ostdeutschen nicht gelungen ist, die eroberte Macht selbstbewusst zu nutzen und die Verhältnisse erst mal im eigenen Land zu klären, um dann souverän dem Westen gegenüberzutreten. Dann hätten wir über eine tatsächliche Vereinigung, nicht nur über einen Beitritt, nachdenken können. Das wäre eine große und notwendige Chance auch für den Westen gewesen, einiges zu überdenken. So aber wurden diejenigen im Westen, die ein „Weiter so!“ wollten, bestärkt, ja der Neoliberalismus konnte nun richtig Fahrt aufnehmen.

    Mit welchen Folgen?

    Schulze: An den Zerstörungen werden wir ökonomisch und sozial, aber auch in Sachen Selbstverständnis, man könnte auch sagen, kulturell und zivilisatorisch, noch länger zu leiden haben. Sie müssen sich nur ansehen, wie wenig Besitz an Grund und Boden, an Immobilien, an Betrieben, an Aktien etc. sich in den östlichen Bundesländern im Besitz der vor 1989 dort Geborenen befindet. Es gibt verschiedene Zahlen, eine mittlere sind 20 Prozent, aber 20 Prozent im Osten. Bundesweit ist der Prozentsatz lächerlich gering. Der Anteil der Ostdeutschen, die sich in Führungspositionen befinden, liegt bei nur 1,7 Prozent – bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent. Und diese Ungleichheit vererbt sich im wahrsten Sinne des Wortes.

    Interessant ist ja, dass, wo gerade mal wieder auf das Polit-Drama um die AfD in Thüringen und Höckes Zug durch Ihre Heimat Dresden geblickt wurde, die Köpfe eines rechtsradikalen Netzwerks aus Bayern kamen, der Anschlag im hessischen Hanau verübt wurde … Was sagt das über den Befund der gespaltenen Gesellschaft?

    Schulze: Der Beitritt der DDR zur BRD war auch ein Beitritt zur westlichen Öffentlichkeit. Die Wirklichkeit im Osten wird in aller Regel von denen beschrieben, die bestenfalls dazugekommen sind, meistens aber aus den westlichen Redaktionsstuben heraus. Um nicht missverstanden zu werden, die größten Differenzen habe ich mit Ostlern, also mit jenen, die ganz Ähnliches erlebt, aber daraus andere Schlussfolgerungen gezogen haben. Im Einzelnen spielt das für mich keine Rolle, ob jemand aus dem Westen oder Osten kommt, so wie die Hautfarbe oder die geschlechtliche Definition für mich nicht wesentlich sind, um jemanden zu beurteilen. Trotzdem fühle ich mich mitunter fremd im eigenen Land, weil bestimmte gesellschaftliche Erlebnisse und Erfahrungen, die für mich entscheidend waren, meinen Gegenübern fehlen. Das war jetzt eine Abschweifung.

    Was ist der Punkt?

    Schulze: Die AfD oder überhaupt den Nationalismus als ostdeutsches Problem zu sehen, wäre fatal. Im Osten kommt eben nur die West-Ost-Problematik verschärfend hinzu. Die ganze Führungsriege der AfD war bisher westlich. Höcke ist genauso ein Westler wie sein Mentor, der Verleger Kubitschek. Und der Osten wurde von Nationalisten auch bewusst als Operationsgebiet ausgewählt. Schon 2009 hatte Sachsen fast zehn Prozent NPD im Landtag. Mich interessieren Höcke und die AfD samt NPD sehr viel weniger als jene, die versucht sind, mit ihnen zusammenzuarbeiten, und Positionen vertreten, die sich gut mit rechten Extremisten vertragen. Es ist ein schlechter Witz, dass sich CDU und FDP im Osten – die ja im Osten in ihren schönen Immobilien aus DDR-Zeiten sitzen und ihre eigene Ost-Vergangenheit so gut wie gar nicht aufgearbeitet haben – ein Verbot auferlegen, das ihnen eine Koalition mit der Linken verbietet. Das ist wirklich noch Kalter Krieg. Das ist für mich eine Spaltung.

    Die deutsche Geschichte ist zentral in Ihrem Werk. Gerade jetzt, im letzten Roman, „Peter Holtz“, wie im aktuellen, „Die rechtschaffenen Mörder“, spielt die Wendezeit eine entscheidende Rolle. Können Sie sagen, warum?

    Schulze: Eigentlich geht es schon in beiden Büchern um die Gegenwart. Nur um die zu verstehen, kann ich nicht auf die Vergangenheit verzichten. Ein westlicher Kollege des Jahrgangs 1962 würde wohl nie gefragt, warum auch die 80er oder 90er Jahre in seinen Büchern vorkommen. Entscheidend aber ist, dass unser Blick auf die Vergangenheit entscheidet, wie wir zukünftig leben wollen, ganz gleich, wie weit wir zurückgehen. In Thüringen entscheidet gerade die Beurteilung der DDR und der 89er Revolution die Regierungsbildung.

    Setzen Sie noch auf die aufklärerische Kraft der Literatur? Oder müssen Sie als politisch denkender Mensch in Zeiten wie diesen auch politisch schreiben?

    Schulze: Als Leser weiß ich, wie wichtig Literatur ist; ich wäre in meinem Denken und Fühlen ein anderer Mensch, wenn ich nicht lesen würde. Und das Politische gehört immer auch zur Literatur wie die Liebe oder die Art und Weise, wie eine Figur ihr Geld verdient, oder die Frage, was ich auf dieser Erde soll. Ein Schriftsteller wird halt häufiger öffentlich um seine Meinung gefragt als eine Lehrerin oder ein Busfahrer, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, wer die differenzierteren Antworten hat. Ich mische mich aber nicht ungern ein, muss aber natürlich auch mit den Reaktionen leben.

    Politisch heißt bei Ihnen weder in „Peter Holtz“ noch in „Die rechtschaffenen Mörder“, dass der Befund eindeutig wäre. Im neuen Buch etwa drehen Sie die Perspektive nicht nur einmal. Ist das demokratische Literatur?

    Schulze: Das ist eine wichtige Frage, danke! Allerdings bin ich skeptisch, ob „demokratisch“ dafür das geeignete Wort ist, zumindest könnte es missverständlich sein. Als Schriftsteller möchte ich so schreiben, dass man unbedingt weiterlesen will, das ist die Voraussetzung. Aber es geht nicht darum, die Leserinnen und Leser zu überwältigen, mir ist es wichtig, auch immer das Signal auszusenden: Es ließe sich auch ganz anders erzählen. Gerade im jüngsten Buch ist der Teil, der auktorial erzählt wird, der Handlung in einem schönen gemütlichen Erzählen vorantreibt, eben der, der später in- frage gestellt wird. Ich bin immer froh, wenn es gelingt, die Voraussetzungen des Erzählens mitzuliefern.

    Mit dem Antiquar Norbert Paulini steht im neuen Buch ein Bildungsbürger im Zentrum. Was der durch die Wende erlebt, zeigt, was kulturelle Entwertung meint. Seine Buchschätze braucht keiner mehr in der neuen Überflussgesellschaft, Autoren aus dem Osten interessierten nicht mehr…

    Schulze: Darüber ließe sich jetzt wieder lange sprechen. Natürlich findet man auch immer wieder Gegenbeispiele. Aber vielfach hat tatsächlich eine große Vernichtung stattgefunden, die schönsten Buchausgaben, selbst kommentierte Klassiker im Leineneinband, flogen auf die Müllhalde. Und was damals mit Christa Wolf und anderen angestellt wurde, war unwürdig, zum Teil auch der Versuch, unliebsame Stimmen zum Schweigen zu bringen. Aber es gab auch jene, die hofften, jetzt endlich veröffentlichen zu können, was vielfach aus kommerziellen Gründen schwierig oder unmöglich wurde.

    Und dann ist da der Verdacht, dass aus jenem Bildungsmenschen ein gewaltbereiter Rechtsreaktionär geworden ist.

    Schulze: Der Verdacht ist da und auch wahrscheinlich, obwohl das nicht alle so sehen. Das Merkwürdige beim Schreiben war: In dem Moment, in dem ich jemanden klar als Nationalisten oder Rassisten zeige, ist die Figur eigentlich erledigt, dann verliert sie im Grunde jede Ambivalenz, jedenfalls für mich, dann ist es schwer, noch irgendwelche Empathie für diese Figur aufzubringen. Literatur aber lebt von der Ambivalenz. Das weiß auch jener Paulini, der offenbar eine ungute Wendung genommen hat oder sich damit zumindest brüstet.

    Auf der zweiten Ebene tritt ein Schriftsteller auf, der aus Dresden stammt, nach Berlin gezogen ist und Ihnen damit ähnlich ist wie der Name Schultze mit t suggeriert. Eine Selbstbefragung?

    Schulze: Ja, auch ein Selbstzweifel. Welchen Anteil habe ich daran, dass die Welt so ist, wie ich sie beschreibe. Diese Erzähler-Figur Schultze ist nicht mit mir gleichzusetzen, aber ich bin ähnlichen oder gar denselben Anfechtungen ausgesetzt wie diese. Ein Autor muss versuchen, den eigenen blinden Fleck zu beschreiben, wenigstens zu umkreisen.

    Schultze wird der Vorwurf gemacht, sich durch Wegzug und Schaffen dem Westen angebiedert zu haben, die „Selbstentleibung“ des Ostdeutschen. Kennen Sie den Vorwurf?

    Schulze: Nein, zumindest ist er mir gegenüber nie geäußert worden. Aber ich lebe seit 1993 in Berlin, jetzt in Westberlin, bin mit einer Frau aus der Pfalz glücklich verheiratet – natürlich kenne ich den Alltag in der ostdeutschen Provinz nicht mehr wirklich. Und mitunter bin ich dann schockiert, wie sehr alles daran hängt, dass man ein Auto hat und in die nächstgrößere Stadt kommt, wo die Häuser in aller Regel schön aussehen, aber es fehlen die Menschen.

    Ihre nachhaltigste Kritik gilt aber dem Triumph des Kommerzes. Ob der Tor Holtz zum Superreichen wurde oder der Buchmensch Paulini ruiniert wird – die innere Leere dieses Kapitalismus und im Äußeren die gesellschaftlichen Verheerungen bleiben. Brauchen wir eine neue, eine andere Wende?

    Schulze: Ja, aber das schon lange. Und ich glaube auch, dass es Mehrheiten dafür in der Bevölkerung gibt. Es geht darum, das auch politisch durchzusetzen: Wenn Arbeit höher besteuert wird als Kapitalerträge, stimmt etwas nicht. Warum muss mein Arzt wie ein Kaufmann denken, und warum müssen Krankenhäuser an Hedgefonds verkauft werden? Warum überhaupt Hedgefonds? Warum setzen wir den Autowahnsinn in den Städten fort, jetzt bald mit Elektro-SUV.

    Was muss geschehen, um die Einheit, den inneren Zusammenhalt zu retten?

    Schulze: Es wäre schon mal viel gewonnen, wenn man sich nochmals genau ansehen würde, was in den Jahren ab 1989 tatsächlich im Osten passiert ist, also eine Wirklichkeit anzuerkennen, die mehr oder weniger unterm Teppich bleibt. Oft sind die Dinge ja so vertrackt, weil die Ostdeutschen mehrheitlich etwas wollten, dessen Folgen sie gar nicht absehen konnten. Und wenn ich es nicht an mir selbst erlebt hätte, würde ich den Grad an Naivität, mitunter auch an Westgläubigkeit, den es damals gab, nicht für möglich halten. Letztlich aber stehen wir alle vor der Frage, wie wir als Zivilisation in Würde überleben, das ist die Frage nach der Gerechtigkeit national wie international, die Frage nach Krieg und Frieden, die ökologische Frage.

    Zum Schriftsteller

    Ingo Schulze, 57, stammt aus Dresden und lebt in Berlin. Er gehört zu den großen Autoren der deutschen Gegenwart und wurde vielfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Augsburger Brecht-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse („Handy“, 2007), für den er nun mit aktuellem Werk wieder nominiert ist. „Die rechtschaffenen Mörder“ (Fischer, 320 S., 21 ¤) erscheint am 4. März.

    Termin Am Samstag, 7. März, stellt Schulze das Buch in Augsburg vor – beim Literarischen Abend in der Stadtbücherei (Beginn 19 Uhr). Karten gibt es im Vorverkauf direkt dort sowie bei der Buchhandlung am Obstmarkt in Augsburg.

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