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Interview: NS-Experte: "Zeitzeugen sind manchmal viel klüger"

Interview

NS-Experte: "Zeitzeugen sind manchmal viel klüger"

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    Für uns Zuhörer erfolgt der Erkenntnisgewinn vor allem über die menschliche Komponente, sagt Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.
    Für uns Zuhörer erfolgt der Erkenntnisgewinn vor allem über die menschliche Komponente, sagt Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Foto: Thomas Dashuber

    Herr Skriebeleit, die letzten Zeitzeugen der NS-Verbrechen sind in hohem Alter, bald werden sie uns nicht mehr von ihrem Leid berichten können. Was bedeutet das für das Erinnern an die Barbarei?

    Jörg Skriebeleit: Die Zeit wandelt sich unabwendbar, aber fundamental – das steckt mit drin in dieser Metapher vom „Ende der Zeitzeugenschaft“. Und das heißt auch, dass die Kommunikation mit Menschen, die den Lagern entronnen sind, bald nicht mehr möglich sein wird und wir uns deshalb neu orientieren müssen.

    Zunächst einmal ist da ein Verlust.

    Skriebeleit: Auf jeden Fall! Der Verlust einer unmittelbaren, biografischen, menschlichen Komponente. Das ist vielleicht das Wichtigste, was es nicht mehr geben wird. Denn die Erzählungen selbst werden nicht verschwinden, sie wurden dokumentiert. Früher auf Audiokassetten, später in Videodokumentationen, durch Gespräche im pädagogischen Rahmen und durch Erinnerungsprojekte. Diejenigen, die wir die Zeitzeugen nennen, haben viele Spuren und auch viel Material hinterlassen.

    In der im NS-Dokuzentrum München zu sehenden Ausstellung über das „Ende der Zeitzeugenschaft“, die Sie mitkonzipiert haben, begegnet man der zunächst irritierenden Botschaft, dass man den Erzählungen der Überlebenden durchaus quellenkritisch begegnen sollte. Wie ist das zu verstehen?

    Skriebeleit: Weil Menschen, wenn sie Geschichten erzählen – auch wenn sie von traumatischen Erlebnissen handeln –, eine Auswahl treffen. Deshalb braucht es einen kritischen Blick darauf. Ich gebe am besten zwei Beispiele. Ein Zeitzeuge, der als Teenager im KZ Flossenbürg war, Jack Terry – er lebt heute noch –, hat mir vor Jahren mal gesagt: Wie oft kann ich die Geschichte der vor meinen Augen ermordeten Mutter und Schwester noch erzählen, ohne dabei selbst psychischen Schaden zu nehmen? Ohne dadurch das Ereignis zu banalisieren? Die kritische Auseinandersetzung sollte immer stattfinden vor dem Hintergrund der Würde dieser Menschen. Es gibt in den Geschichten der Zeitzeugen Verweigerungen beim Erzählen, es gibt Auslassungen, aber auch Agenden, etwa in politischer oder auch versöhnender Hinsicht.

    Wie sieht das im konkreten Fall aus?

    Skriebeleit: Jetzt kommt mein zweites Beispiel. Der erste Flossenbürg-Überlebende, den ich kennengelernt habe, Milo Volf, ein nicht-jüdischer Tscheche, der im KZ war, weil er Leute aus dem Umfeld des Heydrich-Attentats versteckt hatte – mit diesem Milo Volf habe ich viele Interviews auf Deutsch, aber auch auf Tschechisch gemacht. Als ich das Transkript eines dieser auf Tschechisch geführten Interviews las, entdeckte ich, dass da eine Geschichte drinsteckte, die Milo noch nie auf Deutsch erzählt hatte. Nämlich, wie er im Gefängnis hört, dass im Nebenraum seine Mutter gefoltert wird und schreit. Ich habe ihn darauf angesprochen, warum er mir die Geschichte noch nie erzählt habe, auch nicht in Zeitzeugengesprächen mit Schülern, und er sagte: „Weißt du, Jörg, das habe ich ganz bewusst gemacht. Ich will nicht, dass ihr euch schuldig fühlt.“ So etwas meine ich, wenn ich von Agenda spreche: Dass Zeitzeugen manchmal viel klüger sind, und dass es zu ihrem Menschsein gehört, über manche Dinge nicht sprechen zu wollen, manche Dinge auszulassen, andere schönzufärben. Das war unser Anliegen: Eben nicht, hinter falsche Geschichten, Deckerinnerungen oder Master-Erzählungen zu kommen. Sondern zu zeigen, dass wenn wir die Berichte ernst nehmen, dann müssen wir vielleicht nicht fragen: Gab es keinen Widerstand im Lager? Sondern eher Fragen stellen wie: Habt ihr im Lager Vögel singen gehört? Weil da viel mehr von der menschlichen Komponente enthalten ist und damit viel mehr Erkenntnispotenzial für uns Zuhörer.

    Wie lässt sich der Verlust der Zeitzeugen auffangen, gerade für die Erinnerungsarbeit in Gedenkstätten und Museen?

    Skriebeleit: Da sind natürlich die vielen technischen Möglichkeiten heutzutage, Audioaufzeichnungen und Video oder auch Hologramme – 3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden als ganz aktuelle Form, bei der ich freilich skeptisch bin. Als Gedenkstätten oder Museen haben wir zudem die Verantwortung, auch die zum Sprechen zu bringen, die vielleicht schon seit Jahrzehnten nicht mehr leben, wohl aber etwas hinterlassen haben. Und auch die zum Sprechen zu bringen, die überhaupt nie öffentlich sprechen konnten. Der biografische Ansatz ist ein ganz wesentlicher, wird es immer bleiben – weil darin die einzigartige Brutalität der nationalsozialistischen Menschenverachtung sichtbar und erfahrbar wird. Manche neue Perspektive kommt zutage, wenn man mit den Kindern oder Enkeln von Überlebenden spricht. Die Ergebnisse zeigen jedes Mal, wie weit dieses Thema noch in die Familien und generell in die Gesellschaft hineinragt.

    Ein Zeitzeuge berichtet: Max Mannheimer zeigt in einem Video seine tätowierte Häftlingsnummer aus dem KZ.
    Ein Zeitzeuge berichtet: Max Mannheimer zeigt in einem Video seine tätowierte Häftlingsnummer aus dem KZ. Foto: nsdoku; © Haus der Bayerischen Geschichte

    Zu den Zeitzeugen im weiteren Sinn sind auch die Täter zu zählen. Auch sie sterben aus. Muss die Erinnerung an ihre Zeugenschaft nicht ebenso bewahrt werden?

    Skriebeleit: Spätestens seit den 80er Jahren ging es in der Bundesrepublik überwiegend darum, Verständnis für die Opfer hervorzurufen – deshalb gibt es diese starke Opferzugewandtheit in der deutschen Erinnerungslandschaft. KZ-Gedenkstätten wie Dachau, Buchenwald oder Flossenbürg sind primär als Opferorte definiert. Die Täter waren in den 50er, 60er und 70er Jahren in der Gesellschaft sehr präsent, haben sich zu ihrer Täterschaft aber nicht geäußert. Dabei gab es – man denke nur an Albert Speer – in diesen Jahrzehnten eine umfangreiche Memoiren-Literatur. Darin haben sich die Täter sehr aktiv ausgedrückt, jedoch um ihre Kriegserlebnisse zu beschönigen, zu verherrlichen und zugleich andere Dinge zu beschweigen. Man muss dieses Material sicher auch in die Hand nehmen, gerade aus der Sicht einer KZ-Gedenkstätte. Mir ist zudem aufgefallen, dass sich seit ein paar Jahren die Nachkommen von Tätern in einer Zahlenstärke an uns wenden, die vorher nicht vorhanden war. Es sind die Kinder und die Enkel, die sich in ihren Motiven allerdings unterscheiden. In der Generation der Kinder wurde in den Familien über manches nicht gesprochen. Erst später, als man den Nachlass der gestorbenen Väter sichtete, war man mit belastendem Material konfrontiert. Diese Töchter und Söhne haben vielfach das Bedürfnis, sich zu entlasten, viele geben das gefundene Material an uns weiter – gerade geben wir einen Band heraus mit Täterfotografien. Die Enkel sind in der Regel ganz anders, die kommen in die Gedenkstätten, weil sie etwas wissen wollen, und zwar ganz offensiv.

    Stichwort Täterperspektive: Sie waren für die Neugestaltung der Euthanasie-Gedenkstätte im Kloster Irsee als Gutachter tätig. Dort ist eine Bildtafel der Künstlerin Beate Passow, die unter Verwendung eines Fotos entstand, das geschundene Kinder aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt zeigt, entfernt worden – eben mit dem Hinweis auf die Täterperspektive, durch die die Opfer zur Schau gestellt würden. Wird hier nicht Erinnerung an Täterschaft unmöglich gemacht?

    Skriebeleit: Man muss das einordnen. Das besagte Kunstwerk hing ursprünglich in den 90er Jahren in einer Ausstellung mit dem Titel „Heimat“ im Kunsthaus Kaufbeuren. Dann wurde es vom Bezirk angekauft für das Schwäbische Bildungszentrum in Kloster Irsee, als ein Gedenkraum eingerichtet werden sollte. Damals gab es mitnichten die Überlegung, ob man Menschen zusätzlich entwürdigt durch dieses würdelose Foto – das wohlgemerkt nicht von der Künstlerin gemacht wurde –, durch diesen kalten Blick der Täter auf die nackte Kreatur. Dieses Schockelement hatte definitiv seine Berechtigung im damaligen Zeitkontext.

    Trotzdem wurde das Kunstwerk abgehängt.

    Skriebeleit: Eigentlich bin ich gegen jegliche Bilderstürmerei, und ich habe zunächst auch dafür plädiert, das Bild hängen zu lassen und mit einer entsprechenden Einordnung zu versehen. Außer, das war die Bedingung, jemand von den Angehörigen der Opfer fühlte sich durch die Darstellung in hohem Maße betroffen. Und das war in Irsee schließlich der Fall.

    Was ist für Sie im Zusammenhang mit NS-Verbrechen darstellbar und was nicht?

    Skriebeleit: Das ist ein ganz schmaler Grat. Meine Position dazu lautet: Man darf Menschen nicht aktiv entwürdigen und man hat Schamgrenzen zu beachten. Aber wenn wir nicht auch Bilder der Verbrechen, die wir quellenkritisch einordnen müssen, zeigen können, dann fehlt uns eine wesentliche Dimension dieses im negativen Sinne einmaligen Menschheitsverbrechens. Deshalb verzichten wir in Flossenbürg auch nicht gänzlich darauf, setzen solche Bilder aber sparsam ein. Die Grundlinie ist: Auch im Sinne einer guten Sache darf man Opfer nicht ein weiteres Mal entwürdigen, man darf sie nicht pädagogisch vernutzen, also ein klares Plädoyer gegen Leichenbergpädagogik. Nach dieser Maxime ist jedes Bild, das man verwendet, zu befragen. Und es kommt auf den kuratorischen Kontext an: wie man solche Bilder aufhängt, welchen Ausschnitt man wählt, wie man sie einbettet, was man um sie herum organisiert. Aber: Ein komplettes Verbot solcher Bilder, auch von Verbrechensfotos, würde unserem Geschichtsdiskurs eine sehr elementare Dimension wegnehmen.

    Zur Person Jörg Skriebeleit (*1968) leitet seit mehr als zwei Jahrzehnten die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Oberpfalz. Er initiierte eine grundlegende Neukonzeption des Erinnerungsorts. 2020 wurde Skriebeleit zum Honorarprofessor der Universität Regensburg ernannt, wo er auch federführend am Aufbau eines Zentrums für Erinnerungskultur beteiligt ist.

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