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Aids: HIV: Von Menschen, die das Todesurteil überlebten 

Aids

HIV: Von Menschen, die das Todesurteil überlebten 

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    Die Aids-Schleife als Zeichen der Solidarität.
    Die Aids-Schleife als Zeichen der Solidarität. Foto: Fredrik von Erichsen, dpa

    „Positiv.“ Wie harmlos und heiter kommt dieses kleine Wort daher. Es steckt in vielen freundlichen Ermunterungen: Denk positiv! Sieh es doch positiv! Positiv bleiben! Aber manchmal hat das Wort eine ganz andere, monströse Bedeutung. Dann klingen die drei kurzen Silben auf einmal bedrohlich und können einen Menschen in Sekundenschnelle erledigen. Wie sich das anfühlt, erlebte Brigitte Weber (Name von der Redaktion geändert) im Jahr 1985. Sie war 22, heroin-abhängig und in einer Fachklinik in der Nähe Münchens auf Entzug, als sie zusammen mit den anderen Patienten zu einer besonderen Untersuchung gerufen wurde: einem HIV-Test, der kurz zuvor in Deutschland zugelassen worden war. „Uns wurde zu zehnt Blut abgenommen“, erzählt die heute 56-Jährige. Zu dem Zeitpunkt hatte die Aids-Krise der Bundesrepublik bereits begonnen. Man wusste noch relativ wenig über die tödliche Krankheit, die ab den 1980er Jahren auch in Deutschland beobachtet wurde, hatte aber bereits Fixer als eine von mehreren Risikogruppen ausgemacht.

    Ein paar Wochen später wurden die Patienten ins Klinik-Büro bestellt, um das Ergebnis zu erfahren. „Der Telefonhörer wurde von einem zum anderen gereicht. Über das Ergebnis haben wir uns gleich ausgetauscht, schließlich waren wir wie eine Gemeinschaft.“ Die meisten waren negativ. „Bei mir hieß es: ‚Positiv. Sie haben vielleicht noch sechs Jahre zu leben. Aber auch in dieser Zeit sitzen Sie wie auf einem Pulverfass.‘“, erinnert sich Brigitte Weber. „Das war eine Ansage, kein Gespräch.“ Und fügt fast entschuldigend hinzu: „Das Gesundheitsamt war damals überfordert.“

    „Lohnt es sich noch, wenn ich mir die Zähne reparieren lasse?

    Was ist dann passiert? Eigentlich nichts. Kein Aufschrei, kein Zusammenbruch. „Es war so, als würde mich das gar nicht betreffen.“ Brigitte Weber lächelt kurz und erklärt: Dass sie auch in den Jahren danach nicht von den Drogen loskam, habe ihr absurderweise sogar geholfen,. „Ich habe das Ganze nicht realisiert. Als dann aber ein paar meiner engsten Freunde gestorben sind, ist mir klarer geworden, was die Diagnose bedeutet.“ Nämlich: dass sie – zu diesem Zeitpunkt – ein Todesurteil war.

    Ein Mit-Patient, der ebenfalls „positiv“ war, brach die Drogentherapie sofort ab. War doch sinnlos, dachte er. So ging es einigen Menschen, die damals von ihrer Infektion erfuhren, wie sich der Münchner Internist und HIV-Experte Hans Jäger erinnert: „Ich hatte zum Beispiel einen Patienten, der mich fragte: ‚Lohnt es sich denn noch, wenn ich mir die Zähne richten lasse?‘“

    1985 war das Jahr, in dem der Hollywood-Star Rock Hudson an Aids starb und dadurch für weltweite Schlagzeilen sorgte. Ärzte waren noch machtlos gegen die neue Krankheit und konnten nur die Symptome – etwa die typischen schweren Lungenentzündungen – lindern. Brigitte Weber ging es körperlich relativ gut. Nach dem Motto „Schau’n wir mal!“ machte sie einfach weiter, schloss ihre Umschulung als Schreinerin ab und arbeitete auch in diesem Beruf. Inzwischen kam das erste HIV-Medikament mit dem Wirkstoff Azidothymidin (AZT) auf den Markt. „Retrovir“ musste pünktlich alle vier Stunden genommen werden und hatte in den damals üblichen hohen Dosen arge Nebenwirkungen. Hinzu kam, dass sich rasch Resistenzen bilden konnten. Brigitte Weber nahm das Mittel nicht. „Ich habe es auf mich zukommen lassen und geschaut, dass ich das mit den Drogen in den Griff bekomme.“ Und tatsächlich, irgendwie ging alles weiter.

    Doch dann geschah etwas, was ihr Leben auf den Kopf stellte: Sie wurde schwanger. Da die Beziehung zu ihrem Partner in die Brüche gegangen war, stand sie als kranke Mutter allein da. „Ich stand vor der Frage: Soll ich dieses Kind wirklich bekommen? Was passiert mit dem Kleinen, wenn ich nicht mehr bin? Dass mein Sohn dann in eine Pflegefamilie kommt, wollte ich nicht.“ In dieser schwierigen Situation signalisierten ihr Bruder und seine Frau Unterstützung: Sie versprachen, das Kind im Ernstfall großzuziehen. „Das war für meine Entscheidung ausschlaggebend.“ Sie fiel positiv aus: Im Jahr 1997 bekam Brigitte Weber einen Sohn. In der Münchner Universitäts-Frauenklinik war sie damals von anderen Wöchnerinnen getrennt worden und hatte per Kaiserschnitt entbunden. Prophylaktisch bekam der Säugling sechs Wochen lang „Retrovir“. Und war gesund.

    „Eine solche Erfolgsgeschichte hat es in der Medizin kaum je gegeben.“ 

    In der Tat ist die Gefahr, dass eine Mutter das Virus während der Schwangerschaft oder bei der Geburt auf ihr Baby überträgt, nicht gering. „Heute werden Schwangere früh behandelt, sodass die Viren bei ihnen nicht mehr nachweisbar sind“, sagt Annette Haberl vom HIV-Center der Uniklinik Frankfurt am Main. „Dann können sie auch nicht übertragen werden.“ Eine „normale“, also vaginale Geburt ist somit kein Problem mehr. Überhaupt ist der medizinische Fortschritt in der Behandlung von HIV beeindruckend. Der Aids-Arzt Hans Jäger, Medizinischer Leiter des MVZ Karlsplatz in München, sagt: „Eine solche Erfolgsgeschichte hat es in der Medizin kaum jemals gegeben. Die HIV-Infektion ist von einer tödlicher Erkrankung zu einer gut behandelbaren chronischen Erkrankung geworden.“

    Ein Meilenstein war die Einführung der antiretrovalen Therapie im Jahr 1996, bei der mindestens drei Wirkstoffe miteinander kombiniert werden. Sie verhindert, dass sich die HI-Viren vermehren. Die damalige Therapie hatte zwar zum Teil schwere Nebenwirkungen, sorgte aber dafür, dass die Patienten überlebten. Von diesem gigantischen medizinischen Umbruch wurden Menschen, die seit Jahren „positiv“ waren, geradezu überrollt. „Sie hatten sich von der Perspektive, lange zu leben, verabschiedet“, berichtet die Frankfurter HIV-Expertin Annette Haberl. „Viele waren frühverrentet, einige hatten ihre Werte veräußert und überhaupt kein Geld mehr. Jetzt musste auf einmal ein neuer Plan her. Das konnte starke Verunsicherungen auslösen.“ Ähnliches erlebte auch Hans Jäger. Manche der langjährigen Patienten hätten deswegen depressive Phasen durchgemacht. „Bei den meisten überwiegt aber die Freude.“

    „In einem ärmeren Land wäre ich wohl nicht mehr da.“

    Auch Brigitte Weber freut sich, dass sie noch lebt. Ihr Körper hat viel durchgemacht, doch man sieht es ihr nicht an. Seit der Geburt ihres Sohnes nimmt sie regelmäßig Medikamente und hat es geschafft, von den Drogen wegzukommen. Auch eine Hepatits-C-Infektion und Gebärmutterhalskrebs hat sie überstanden. Von Kleinigkeiten abgesehen, sagt sie, gehe es ihr gut. Nur leidet sie darunter, dass sie schnell erschöpft ist. „Ich bin dankbar, dass ich in Deutschland lebe. Das ist schon ein Luxus hier, dieses Gesundheitssystem. In einem ärmeren Land wäre ich wohl nicht mehr da“, sagt sie nüchtern. Viel Zeit ist seit der Diagnose vergangen. Ihr Sohn ist erwachsen und geht seiner eigenen Wege. Vor ein paar Jahren musste Brigitte Weber von ihren Eltern Abschied nehmen. „Eigentlich hatte ich immer damit gerechnet, dass ich vor ihnen sterbe.“ Auch das machte ihr noch einmal klar, wie sehr sich ihre Perspektive geändert hat. Dabei ist sie ohnehin keine, die große Pläne schmiedet. „An eine Weltreise oder so etwas habe ich nie gedacht.“

    Inzwischen haben „positive“ Menschen eine fast genauso hohe Lebenserwartung wie Durchschnittsbürger. Mediziner vergleichen die Infektion gelegentlich mit anderen chronischen Erkrankungen, etwa Diabetes. Und doch gibt es da einen entscheidenden Unterschied: Nach wie vor rührt HIV an Tabus. Zwar sind die Zeiten vorbei, als die Krankheit als „Strafe Gottes“ für lasterhaftes Treiben angesehen wurde. Trotzdem müssen infizierte Menschen nach wie vor mit Diskriminierungen in Alltag, Berufsleben und im medizinischen Bereich rechnen. Zum einen steckt es tief in den Köpfen, dass sie die Infektion durch unmoralischen Lebenswandel – etwa Promiskuität oder Prostitution – selbst verschuldet hätten. Zum anderen gibt es immer noch irrationale Infektionsängste, wie etwa Holger Wicht von der Deutschen Aids-Hilfe berichtet. Das hat auch Brigitte Weber erlebt: Ein Kollege hatte so große Angst vor Ansteckung, dass sie eine eigene Toilette zugewiesen bekam – eine abwegige Entscheidung. Aufgrund solcher Erfahrungen hat sie sich immer gut überlegt, wem sie von ihrer Infektion erzählt. Sie machte ein paar negative, aber auch viele positive Erfahrungen: Da war die Lehrerin ihres Sohnes, die zufällig von der Diagnose erfahren hatte, und sich vorbildlich verhielt. Oder die Leiter seiner Pfadfinder-Gruppe, die freundlich und hilfsbereit auf die Nachricht reagierten. „Ich bin sehr froh, dass mein Sohn nie diskriminiert wurde. Das hätte mir sehr leidgetan.“

    Heute ist Aids, die einst so unheimliche Seuche, kein großes Thema mehr in der Öffentlichkeit. „Früher wurde so viel darüber berichtet, weil HIV eine Bedrohung, ein Rätsel, eine Katastrophe war“, sagt Holger Wicht. „Heute ist es keine Katastrophe mehr. Darüber sind wir sehr froh.“ Die immense Verbesserung in der Therapie sei bei vielen Leuten aber noch nicht angekommen. „Es gibt noch viel zu dramatische Bilder von HIV in den Köpfen.“ Auch die Ansteckungsgefahr wird landläufig oft überschätzt. Dabei wissen Experten längst: Wer längere Zeit Medikamente nimmt und daher keine HI-Viren mehr im Blut hat, ist auch nicht ansteckend. Zudem kann man sich – vergleichbar mit der Malaria-Prophylaxe – durch Arzneimittel vor einer Infektion schützen. Andererseits gab es in Deutschland 2017 etwa 2700 Neuinfektionen.

    Brigitte Weber hat es akzeptiert, dass sie sich damals, irgendwann in den frühen 1980er Jahren, angesteckt hat. Traurig oder wütend ist sie deshalb nicht. Im Grunde ist sie recht zufrieden mit ihrem Leben. „Eigentlich habe ich doch Glück gehabt“, sagt sie, lächelt und macht eine kurze Pause. „Ich habe erlebt, dass meine Familie zu mir hält und mich hundertprozentig unterstützt. Und mein Sohn hat mir viel Freude bereitet. Mein Positiv-Leben hat mir viele positive Dinge gezeigt.“

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