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Interview: Alanis Morissette: "Die Liebe ist eine der gefährlichsten Süchte"

Interview

Alanis Morissette: "Die Liebe ist eine der gefährlichsten Süchte"

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    Alanis Morissette spricht mit uns über Depressionen, Liebessucht und #MeToo.
    Alanis Morissette spricht mit uns über Depressionen, Liebessucht und #MeToo. Foto: Sven Hoppe, dpa

    Ihre neue Single heißt „Reasons I Drink“. Hatten Sie heute schon Grund zu trinken?

    Alanis Morissette: Japp. Bis jetzt habe ich widerstanden, aber gut möglich, dass ich nachher mit meinem Mann eine Flasche Wein öffne. Es ist vor allem die Schlaflosigkeit, die mich in die Arme des Alkohols treibt. Ich habe das Gefühl, dass ich sechs Tage lang nicht gepennt habe. Der Jetlag, die drei Kinder – mein Stresslevel ist kontinuierlich sehr hoch.

    Ist die ganze Familie mit dabei auf Ihrer Europareise?

    Morissette: Ja. Mein Mann und alle drei Kinder. Unsere Sohn Ever ist neun, Tochter Onyx vier und Winter, unser Kleinster, kam im vergangenen August zur Welt. Ich will die alle nicht alleine lassen, ich hänge so an denen. Aber es ist natürlich sehr herausfordernd. Bei den ersten beiden Kindern hatte ich richtige Wochenbett-Depressionen, bei Winter litt ich nach der Geburt unter … – ich nenne es: Aktivitäten. Nicht so heftig wie bei den älteren, aber es war doch auch nicht nichts. Ängste vor allem und Panikattacken.

    Was tun Sie dagegen?

    Morissette: Nun ja, Medikamente helfen, sehr sogar. Ansonsten ist die Liste der alternativen Selbstmedikation lang: Essen, Alkohol, das Stürzen in Arbeit, Liebe.

    Liebe?

    Morissette: Die Liebe ist eine der gefährlichsten Süchte überhaupt. Sie kann dich zugrunde richten. Angenommen, du lebst in einer Beziehung, die nicht funktioniert, hängst aber schrecklich an deinem Partner oder deiner Partnerin, ganz ehrlich, das ist grausam.

    Liebessucht klingt erst mal nicht so schlimm.

    Alanis Morissette - ihre Karriere

    Am 1. Juni 1974 im kanadischen Ottawa als Tochter eines Soldaten geboren, wuchs Alanis wie ihre beiden Brüdern einige Jahre stationiert im Schwarzwald auf.

    1990 nahm sie, die da schon im Kinderfernsehen auftrat, an der Talent-Show „Star Search“ teil. Ihr Durchbruch war das Album „Jagged Little Pill“ im Jahr 1995.

    Ihr neues Werk „Such Pretty Forks In The Road“ erscheint am 31. Juli.

    Morissette: Ist sie aber. Der Entzug und die Entwöhnung können der Horror sein. Mit Heroin und ähnlich harten Drogen habe ich allerdings keine Erfahrungen, daher fehlen mir die Vergleichsmöglichkeiten. Grundsätzlich macht es mich traurig, wenn Süchtige beurteilt und verurteilt werden. Ich begegne ihnen mit Empathie. Ich verstehe sie. Wir alle suchen nach Erleichterung von Stress und Schmerz und nach einem Weg, nicht komplett auseinanderzufallen.

    Sie sind jetzt seit zehn Jahren mit dem Rapper und Musiker Mario „Souleye“ Treadway verheiratet. Wie schlimm ist die Liebessucht denn?

    Morissette (lacht): Ich habe glücklicherweise einen Mann geheiratet, mit dem es immer noch sehr gut funktioniert. Wir haben unsere Kämpfe, aber es läuft mit ihm eindeutig besser als mit allen anderen Kerlen zuvor. Wenn wir streiten, was wir oft genug tun, sehen wir das eher als Ansporn, noch mehr miteinander zu reden.

    Sie sprechen sehr offen über Ihre postpartalen Depressionen. Als Krankheit nach Geburten wurden diese lange Zeit unterschätzt, oder?

    Morissette: Das kann man wohl sagen. Die Annahme war ja immer „Mütter und Väter sind so voller Liebe und Glück, denen muss es einfach ganz wunderbar gehen.“ Und wenn man dann leidet, heißt es nur „Schlaf dich mal aus“. Aber so einfach ist es leider nicht.

    In „Losing The Plot“ sagen Sie, dass das Licht am Ende des Tunnels der Zug sei, der mit 160 Stundenkilometern auf Sie zurase.

    Morissette: Und trotzdem steckt in dem Lied viel Zuversicht. Ich habe gelernt, dass meine Depressionen nach den Geburten zwei bis drei Jahre anhalten. Das ist kein Leiden für den Rest des Lebens. Am Großartigsten ist es, langsam wieder rauszukrabbeln aus der dunklen Höhle, jedes Mal etwas weiser und widerstandsfähiger.

    Vielleicht doch noch ein viertes Kind?

    Morissette: Oh nein. (lacht). Mum is done. (Mama ist fertig) In einem Paralleluniversum hätte ich zehn leibliche und zehn adoptierte Kinder, aber ich bin mit dem Kinderkriegen durch. Ich arbeite bei drei Kindern ja praktisch Vollzeit. Mehr geht nicht.

    Sie waren in Kanada ein Kinderstar, bei Karrierebeginn nicht viel älter als Ihr Neunjähriger …

    Morissette: Das stimmt. Mal schauen. Wir forcieren nichts, aber wir würden die Kinder auch nicht daran hindern, wenn das ihr Wunsch wäre. Ich selbst wusste mit drei, dass ich Sängerin werden wollte. Aber bis heute denke ich, ich hätte auch gern studiert. Die heutige Zeit ist offener, die Gesellschaft lädt dich geradezu ein, alles sein zu können. Ich finde diese Ära toll für vielfältig begeisterte Menschen.

    „Reasons I Drink“ ist der wütendste Song auf Ihrem Album. Wie wichtig ist Wut?

    Morissette: Wut ist immens wichtig. Wut ist für mich ein positives Gefühl. So lange wir unsere Wut spüren und ihr Ausdruck verleihen können, sind wir nicht depressiv. Meine Wut hilft mir, als Mamabär die Kinder zu beschützen, und sie hilft mir auch, wenn ich bei Kongressen über Themen wie das Patriarchat und die Stellung von Frauen in der Musikbranche debattiere. Wut stößt Veränderungen an. Ich liebe junge Menschen wie Greta Thunberg. Sie hat sehr viel Grund, um wütend zu sein.

    Sie haben vor mehr als zehn Jahren schon erklärt, als Teenager vergewaltigt worden zu sein, in Songs wie „Hands Clean“ haben Sie über Ihre Erfahrungen, die auch die Erfahrungen vieler Frauen gerade in der Entertainmentbranche sind, gesungen. Was denken Sie über die #MeToo-Bewegung?

    Morissette: In einem Wort: Es ist großartig, was passiert. Ich werde immer sauer, wenn es heißt: „Warum hat sie so lange gewartet, bis sie was gesagt hat?“ Die meisten Frauen haben nicht gewartet. Ich will nicht wissen, wie viele von uns in ihren Betrieben beim Chef oder in der Personalabteilung waren – und abgeblitzt sind. Oder gar gemobbt wurden. Jetzt endlich wird einem zugehört. Für mich ist #MeToo keine feministische Bewegung, sondern eine menschliche.

    Ihr berühmtestes Album „Jagged Little Pill“ wird in diesem Jahr 25 Jahre alt. Sind Sie stolz?

    Morissette: Ja. Ich kann diese Songs immer noch mit derselben Überzeugung singen wie mit Anfang 20. Das Album hat das Leben vieler Menschen ein bisschen beeinflusst, es hat ihnen eine ganze Palette von Gefühlen an die Hand gegeben: Wut, Freude, Trauer, Glück, das volle Programm. „Jagged Little Pill“ war ein Erlaubnis-Erteiler für Emotionen aller Art, und deshalb wurde es so ein Zeitgeist-Phänomen.

    Inzwischen gibt es auch eine Musical-Version, die am Broadway gespielt wird.

    Morissette: Und ich heule jedes Mal, wenn ich im Publikum sitze. Es sind glückliche Tränen.

    Was ist Ihr nächstes Projekt?

    Morissette: Ich arbeite an einem Buch. 1300 Seiten habe ich schon geschrieben. Aber ein paar Monate brauche ich noch. Ich liebe es einfach, viele Worte zu machen (lacht).

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