Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten
Gesellschaft
Icon Pfeil nach unten

Gesellschaft: Vorsicht, Verbot: Ein Abgesang auf die Plastiktüte

Gesellschaft

Vorsicht, Verbot: Ein Abgesang auf die Plastiktüte

    • |
    Alltag mit Plastiktüte
    Alltag mit Plastiktüte Foto: Foto: Michael Schreiner

    Wer heute Filme aus den 1970er Jahren sieht, durchs Fernseharchiv zappt oder in Fotoalben blättert, wundert sich: Die haben ja alle geraucht! Ständig. Alle hatten unablässig alle Hände voll zu tun. Wir, ihr, sie: Raucher. Überall glimmende Zigaretten zwischen Fingern und Lippen, Qualmgirlanden aufsteigend aus Aschenbechern. Rauchen war jahrzehntelang wie atmen.

    Vielleicht werden wir uns in zehn Jahren mit ähnlichem Erstaunen die Augen reiben, wie selbstverständlich die Plastiktüte einmal zu unserem Alltag, in unsere Hände, zu unserer Lebensgrundausstattung gehörte – und dann plötzlich nicht mehr. Rauchverbot. Plastiktütenverbot. Untragbar geworden.

    Wir werden große Augen machen 2030, wenn wir im dann schon digitalen Bildgedächtnis herumwischen. Fußgängerzonen: gespickt mit wippenden, hüpfenden Plastiktüten an hängenden Armen. Wartebereiche auf Flughäfen: Mitfliegende Plastiktüten lungern überall herum. Deutsche Ortsbilder: Immer laufen irgendwo Männer, die Fahrräder schieben, an deren Lenkern prallvolle Plastiktüten hängen. Kein Gebüsch ohne schimmernde knittrige Plastiktüte, und Altkleidersammlungen und Umkleidekabinen und Besenschränke sowieso nicht. Die Plastiktüte war allzeit zur Hand. Einkaufen und Plastiktüte: Das gehörte zusammen wie inzwischen Kaffee und to go, wie einst Zigarette und Feuerzeug, wie Ex und Hopp.

    Das Zeitalter der Plastiktüte geht zu Ende. Sie packt die neuen Zeiten nicht mehr. Die Plastiktüte nimmt den Weg des Pelzmantels. Den Weg der Krokohandtasche. Geächtet. Sie hat ihre Unschuld verloren, schon lange. Schleichender Tod. Sie wird im kollektiven Bewusstsein erlöschen wie das Licht der Glühbirne. Plastik verschmutzt die Meere und zerstört Natur, es zersetzt sich, sickert überall ein, mikrowinzig auch in unsere Organe. Plastiktüten sind identifiziert als Drecksäcke, als Umweltschädlinge, als Billigheimer-Pest des destruktiven kapitalistischen Lebenswandels und seiner Wegwerfmentalität. Ozeane voller Plastiktüten: Die wahnwitzige Masse ist das Problem, das Zeug wird einem ja auch weltweit hinterhergeschmissen.

    Wer da nicht mitmachen will, bitte melden!

    Natürlich ist die Tüte nicht der Knackpunkt der Klimakrise (manche halten ihre Klimabilanz sogar für ordentlich) – aber ein einladender Ansatzpunkt für den Bewusstseinswandel. Plastiktüten sind einfacher zu verbieten und zu verbannen als der Verbrennungsmotor. Ihr Prestige ist sehr gering, ihr Symbolwert sehr hoch. Bashing von Trash: Wer da nicht mitmachen will, Teufel noch mal, bitte melden!

    Praktisch sind die Tüten wie Papiertaschentücher und Wattestäbchen und Strohhalme ja auch. Aber wer kämpfte um das Fortleben der gebeutelten Plastiktüte? Wo doch massig „guter“ Ersatz bereitsteht: Stoff, Jute, Papiertüten, Netze, Rucksäcke, Basttaschen, Weidenkörbe, Konsumverzicht überhaupt.

    Ohne Plastiktüten gewinnen wir vielleicht ein Atempäuschen für den Planeten. Wir brauchen die Plastiktüte nicht. Aber es könnte gut sein, dass wir sie vermissen werden. Nicht nur die Nostalgiker, die allem Verschwindenden hinterherweihräuchern. Nein, ganz ohne Wählscheibentelefonschmalz: Weil die Plastiktüte ein Alleskönner ist, ein Raumwunder, dehnbar, wasserfest, allzeit verfügbar, robust, nützlich, leicht. Und ja: schön. Es gibt schöne Plastiktüten, gut gestaltet. Einer der Klassiker aus dem Massennachkriegstütenzeitalter ist die Tüte von Aldi Nord, gestaltet vom Künstler Günther Frühtrunk. Die Plastiktüte ist ein Multiple von hohem ästhetischen Reiz, das sieht man auch mit Ökoblenden auf den Augen.

    Sie ist beladen mit Bedeutung, vollgestopft geradezu. Die Plastiktüte ist immer eine Projektionsfläche gewesen. Für Werbung, das ja sowieso und an vorderster Front. Sie wurde als Attribut von Armut gesehen, als „Türkenkoffer“ geschmäht. Man konnte mit ihr aber auch angeben. Milano. New York. Ihr wurde hinterhergejagt als begehrtes Hoheitszeichen der goldenen Konsumwelt und ihrem Markenglanz. Man schmückte sich mit Plastiktüten und schämte sich mit ihnen. Stülpte sie über den Fahrradsattel.

    Lebenszyklus: 500 Jahre. durchschnittlicher Gebrauch: 30 Minuten   

    Eine Plastiktüte als Requisit auf einer Theaterbühne ist ein ruckzuck aufgeladenes Narrativ. Bankräuber lassen ihre Beute da hineinstopfen, Kulturmenschen schleppen kiloschwere Kataloge darin aus dem Museum, Penner fahren ihre Habe darin in Einkaufswagen herum. Entlassene Banker hingegen tragen Pappkartons aus den Aufzügen ihrer Glasturmbüros.

    Plastiktüten wurden und werden nicht nur gehortet, sondern auch gesammelt – sie sind Kultgegenstände, Design-Stücke, geschmückt mit Logos, Bildern, Grafik, Exotik. Sie können Typografie-Kunstwerke sein, Reiseziele verraten, Zeitgeschichte erzählen, Zeitgeschmack sowieso. Die Vielfalt findet sich in Gestaltung wie in Gestalt. Wenn von Plastiktüten die Rede ist, sind die festeren Polyethylen-Taschen gemeint, nicht die hauchdünnen Tütchen für den Kopfsalat. Zwei Milliarden Stück der großen PE-Beutel haben die Deutschen 2018 eingesackt. Das ist viel Zeug, 24 Taschen pro Einwohner. Aber es waren 2016 noch 45 Tüten pro Kopf! Kosten jetzt ja auch paar Cent. Retten vorm absehbaren Verbotsbann wird die freiwillige Schubumkehr des Verbrauchs die Plastiktüte wohl nicht.

    Dafür, dass sie ein so schnöder Gegenstand ist, ist die Plastiktüte sehr gut erforscht. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Tüte in ihrem Lebenszyklus (bis zu 500 Jahre!) durchschnittlich eine halbe Stunde in Gebrauch ist. Da muss man ansetzen. Eine Zigarette kannst du nur einmal rauchen. Eine Plastiktüte, die nicht weggeworfen wird, sondern aufgehoben und immer und immer wieder benutzt wird, ist neutral und unverwüstlich.

    „Statt Fahnen: So ein Reichtum an Plastiktüten!“ Mit so einem Satz würde man sich heute nicht nur an Freitagen schnell unbeliebt machen. Steht aber so bloß in einem Roman von Peter Kurzeck – auf Papier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden