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Buchkritik: Julian Barnes über einen vernünftigen Menschen in verrückter Zeit

Buchkritik

Julian Barnes über einen vernünftigen Menschen in verrückter Zeit

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    Der englische Schriftsteller Julian Barnes.
    Der englische Schriftsteller Julian Barnes. Foto: Marta Perez, dpa

    Drei Franzosen reisen nach London. Das wäre nicht so ungewöhnlich, handelte es nicht sich um ein Trio von Prinz, Graf und Bürger. Sie sind auf „intellektueller Einkaufstour“, will sagen, der Besuch des Händel-Festivals im Crystal Palace steht neben dem Erwerb kostbaren Tuchs und der Erkundung des örtlichen Ästhetizismus.

    Die Reisenden im Sommer 1885 sind der Prinz Edmond de Polignac, der Graf Robert de Montesquiou-Fezensac und der Bürger Dr. Samuel Jean Pozzi. In Julian Barnes’ neuem Buch „Der Mann im roten Rock“ geleitet das Trio den Leser durch wahrhaft abenteuerliche Jahre, in denen die Wohlhabenden, die Dandys und Dekadenten ihr Ich auf der Bühne des Lebens zelebrieren, der Snobismus alle Hemmungen ablegt, Verkleidungen und Rollenwechsel (vor allem in der Liebe) die Regel sind, Kunst und Künstlichkeit als Barrieren gegen das Vulgäre hochgezogen werden. Es geht um das durch Konkurrenz angetriebene Karussell der Geltung, um die Rotation von Legenden, Lügen und Schmähungen, um verletzte Ehre und das oft folgenschwere Ende durch ein Pistolenduell.

    Der Mann im roten Rock und die Berühmtheiten

    Aufgeschlagen wird das Kapitel der erhitzten Belle Époque. In jener schön-schrecklichen Zeit kursieren Einladungen (in die Salons) und Kontakte, sind Reisen (zwischen Frankreich und England und Amerika) an der Tagesordnung, beäugen sich Berühmtheiten: Schriftsteller wie der prozessgeplagte Oscar Wilde („Das Bildnis des Dorian Gray). wie Joris-Karl Huysmans („Gegen den Strich“), Proust und Maupassant, Maler wie Monet, Komponisten wie Wagner und Gabriel Fauré, Journalisten wie Jean Lorrain. Oder die freizügig mit Liebhabern umgehende, mit einem Schimpansen namens Darwin reisende Schauspielerin Sarah Bernhardt. Für diese Diva greifen reihum die Autoren zur Feder, von Oscar Wilde und Alexandre Dumas dem Jüngeren bis zu Edmond Rostand.

    Dr. Samuel Pozzi, aufgenommen vom berühmten Fotografen Nadar.
    Dr. Samuel Pozzi, aufgenommen vom berühmten Fotografen Nadar. Foto: Archiv

    Das alles ist von einer Kurzweiligkeit, einem Esprit und zugleich einer abgedrehten Abgründigkeit, die dieses bewundernswert recherchierte, klug zwischen Kulturhistorie, Porträt, Kurzessay und anschaulichen Abschweifungen wechselnde Buch zum Leseerlebnis und (dank großzügiger Bebilderung) zum Schaustück machen. Autor ist der Engländer Julian Barnes (Jahrgang 1946), ausgewiesen durch Ironie und Humor, durch Bücher wie „Flauberts Papagei“, zuletzt durch die anregenden Betrachtungen in „Kunst sehen“.

    Ein Gemälde gab auch den Anstoß zum jüngsten Werk: „Dr. Pozzi at Home“ (1881) von John Singer Sargent. Der amerikanische Maler porträtierte Pozzi im scharlachroten Hausrock, eine herausragende Erscheinung mit auffallend ausdrucksstarken Händen. (Das Bild befindet sich heute in der Hammer Collection in Los Angeles.)

    Wer ist dieser Doktor Pozzi (1846–1918)? Eine heutzutage kaum bekannte Größe unter den Großen seiner Zeit. Die (u. a.) mit ihm verbandelte Sarah Bernhardt nannte ihn „Doctor Dieu“. Julian Barnes erweist einem Mann die wohlverdiente Ehre, der um 1900 im Zenit steht, reich und als Mediziner hochberühmt, Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologie in Frankreich, Autor eines einschlägigen Standardwerks, gefragter Chirurg bei der Prominenz, spezialisiert auf die in Duellen erlittenen Schussverletzungen, auf die Laparotomie (die Öffnung des Bauchraums), versiert im Vernähen von Blutgefäßen, ein Pionier in Fragen antiseptischer Verfahren, überdies einem Warner vor dem furor operativus.

    Drei Schüsse auf Dr. Pozzi

    Er war noch viel mehr: Herzensbrecher, unglücklich verheiratet, Reisender, Politiker, Übersetzer von Darwin und Sammler (für die Auflösung seiner Kollektion waren 1919 sieben Auktionen mit 1221 Losen angesetzt) – in einem Satz des Autors Barnes „ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit“. Zu dieser Verrücktheit gehört, dass einer seiner Patienten 1918 drei Schüsse auf Pozzi abfeuerte.

    Barnes fährt die Fieberkurven jener Jahre nach. Souverän räsoniert er zwischendurch über die Biografensprache, die Vergangenheit als „Spielball der Gegenwart“, das selbstherrlich gebrauchte Recht zu einem Urteil, nicht zuletzt über das „Was wir alles nicht wissen“. Insbesondere einen Satz Samuel Pozzis reicht der Autor an uns weiter: „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“.

    Julian Barnes: Der Mann im roten Rock. A. d. Englischen v. Gertraude Krueger. Kiepenheuer&Witsch, 299 S., 24 €.

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