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Interview: Kinoexperte im Interview: Was macht den Reiz von Polizeifilmen aus?

Interview

Kinoexperte im Interview: Was macht den Reiz von Polizeifilmen aus?

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    Als "Dirty Harry" erfand Clint Eastwood einen Polizisten völlig neuen Zuschnitts, hier in einer Szene aus dem vierten Teil "Dirty Harry kommt zurück".
    Als "Dirty Harry" erfand Clint Eastwood einen Polizisten völlig neuen Zuschnitts, hier in einer Szene aus dem vierten Teil "Dirty Harry kommt zurück". Foto: Mary Evans, Imago Images

    Herr Seeßlen, wir werden jeden Tag geflutet von Polizeifilmen, kein TV-Sender, kein Streaming-Portal, kein Kino-Programm kommt ohne sie aus. Warum ist das so?

    Georg Seeßlen: Was man im engeren Sinn als Polizeifilm verstehen kann, unterscheidet sich von jenen Kriminalfilmen, in denen der Polizist als bloßer Ermittler auftritt, dadurch, dass es hier tatsächlich um die Figur des Polizisten geht. Im eigentlichen Polizeifilm sind die Polizisten nicht nur die Problemlöser, sondern sind zugleich das Problem. Der erste Film, der die Bezeichnung Polizeifilm wirklich verdient, Fritz Langs "The Big Heat" von 1953, fängt an mit einer Szene, in der ein korrupter Polizist sich selbst getötet hat, was den eigentlichen Helden für den Rest der Handlung in den Konflikt stürzt, ob Polizist sein überhaupt etwas Erstrebenswertes ist.

    Es geht also nicht nur um Polizisten, sondern auch um die Gesellschaft.

    Seeßlen: Das ist das Problem, das sich in dem Genre immer wiederholt: Wie ist das Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft? Ist der Polizist ein Teil der demokratischen Zivilgesellschaft oder steht er außerhalb von ihr? Gerade letzteres ist eine Schlüsselfrage. Ich vermute, dass die Figur des Polizisten als Metapher für eine Gesellschaft steht, die noch nicht so ist, wie sie eigentlich sein sollte. Und der Polizist muss als lebendes Beispiel dieses uneingelöste gesellschaftliche Versprechen in seinem persönlichen Schicksal ausagieren.

    Der Polizist ist von Amts wegen befugt, Gewalt auszuüben, eine Problematik, die in Polizeifilmen immer wieder thematisiert wird.

    Seeßlen: Da haben wir einen großen Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Genrebeiträgen. Während in den USA das Ideal des Gewaltmonopols durch die Polizei nie vorhanden war – es ist ein Grundrecht der Amerikaner, Waffen zu tragen und sich selbst zu verteidigen –, steht in Deutschland aufgrund der historischen Erfahrung das staatliche Gewaltmonopol im Vordergrund. Der amerikanische Polizist hat nie diese starke Autorität, und so ist er oft ein prekärer Arbeiter, der dieselben Methoden anwendet wie seine Gegner und wie ein Gangster foltert oder das Mittel des Betrugs einsetzt.

    Im deutschen Filmen ist das anders.

    Seeßlen: Zumindest, wenn man sich klassische Genrebeispiele aus den 70er Jahren anschaut, wo der Polizist ein absolut integrer Vertreter des Rechtsstaats ist. Mittlerweile jedoch werden auch wir in unseren Polizeiserien immer weiter daran gewöhnt, dass selbst bei uns die Polizisten sich nicht unbedingt an die Regeln halten. Sie müssen auch mal betrügen, auch mal mit Gewalt drohen. Das ist eine relativ gefährliche Entwicklung, dass wir jeden Tag im Fernsehen im Grunde sympathische Personen sehen, die es rechtfertigen, den rechtsstaatliche Rahmen der Polizei zu umgehen.

    Der Polizist in der Krise.

    Seeßlen: Der Polizist muss immer zwei Sphären zusammenbringen. Er muss sich an Recht und Ordnung halten, zugleich aber Autorität verkörpern. Es gibt einen bemerkenswerten Satz in einem der "Dirty Harry"-Filme, der lautet sinngemäß: Einfach ist die Arbeit des Polizisten nur in einem Polizeistaat. Diese Ambivalenz führt in fiktionalen Bearbeitungen dahin, dass der Polizist wie auch die Gesellschaft oft eine klammheimliche Sehnsucht nach polizeistaatlichen Elementen entwickelt. Und dann gibt es da auch dieses Misstrauen: Wir sehen im Polizisten den Vertreter eines Staates, dem wir nicht immer hundertprozentig trauen.

    Es gibt Filme, in denen Polizisten ausgesprochene Bösewichte sind. Was ist da passiert mit den Gesetzeshütern?

    Seeßlen: Zunächst ist da die Korrumpierbarkeit, die begründet ist durch die soziale Situation: Polizisten sind schlecht bezahlt, nicht besonders angesehen, müssen extrem viel arbeiten, ein Zustand der permanenten Überforderung. Eine andere Gefahr, die vor allem im amerikanischen Film thematisiert wird, ist die Herausbildung von Korpsgeist und Verschwörertum, von einem Staat im Staate. Ein Drittes ist die Einsicht, dass der Polizist seine eigentliche Aufgabe gar nicht erfüllen kann. Das alles muss erzählbar, menschlich gemacht werden, sonst verzweifeln wir an unserer Polizei.

    In Deutschland ist der Polizeifilm wesentlich eine Domäne des Fernsehens, im Unterschied etwa zu Frankreich und den Vereinigten Staaten. Weshalb ist das so?

    Seeßlen: Ich bin gar nicht sicher, ob das so stimmt. In Ufa-Filmen oder auch im deutschen Nachkriegskino gab es durchaus Filme, die vergleichbar sind. Allerdings haben die Deutschen nie diese fast mythologische Tiefe der Amerikaner erreicht. Das liegt an der Tradition – der amerikanische Polizeifilm kommt ja zu einem großen Teil vom Western her. Dort gibt es schon diese Vorstellungen, was Recht ist und gerechtfertigte Gewalt. Diesen mythologischen Untergrund, wo der Mann des Gesetzes zugleich derjenige ist, der die Nation schafft, den gibt es in Deutschland nicht.

    Filmszene aus Robert Aldrichs "Chorknaben" (1977) – laut Kino-Experte Georg Seeßlen "einer der bösesten Polizeifilme".
    Filmszene aus Robert Aldrichs "Chorknaben" (1977) – laut Kino-Experte Georg Seeßlen "einer der bösesten Polizeifilme". Foto: Mary Evans, Imago Images

    Was mit unserer besonderen Geschichte zu tun hat.

    Seeßlen: Auf eine vergleichbare Überhöhung des Polizisten-Helden konnten wir hierzulande schon deshalb nicht setzten, weil die Polizei im Nationalsozialismus sich nicht gerade als Widerstandsgruppe hervorgetan hat. Den Polizisten als epischen, tragischen Helden, den können wir uns im deutschen Polizeifilm gar nicht vorstellen. Deswegen haben wir das genaue Gegenteil vom amerikanischen oder auch französischen Film gemacht: Wir haben den Polizisten vermenschlicht. Dirty Harry oder auch Alain Delon in Melville-Filmen haben kein Privatleben, die gehen vollständig auf in ihrer Funktion.

    Nicht wenige US-Filme zeigen den weißen Cop an der Seite eines dunkelhäutigen Kollegen. Hält man sich die reale Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA vor Augen, kommt einem diese filmische Allianz wie ein Wunschtraum vor.

    Seeßlen: Absolut. Dieser Wunschtraum hat sich in den 60er Jahren entwickelt, und in den beiden folgenden Jahrzehnten war das schwarz-weiße Polizeiduo das liberale und demokratische Ideal schlechthin. Eine Utopie, auch weil sich beide Protagonisten nicht nur in Bezug auf die soziale Gerechtigkeit hin ergänzt haben, sondern auch hinsichtlich ihrer Temperamente – meistens war der schwarze Polizist der etwas bürgerlichere, der weiße der Durchgeknalltere. Das war so etwas wie ein kollektiver Traum: Wenn die Polizei das vorlebt, könnte das auch die übrige Gesellschaft nachmachen. Interessant ist, dass so etwa ab den 90er Jahren dieses utopische Projekt wieder abgebrochen ist. Es gibt zwar noch ein paar Nachfolger, vor allem komischer Art. Aber eigentlich glaubt auch der Polizeifilm nicht mehr an diese Utopie von Multikulturalität.

    Herr Seeßlen, zum Schluss bitte noch ein Tipp für einen Polizeifilm, den man unbedingt gesehen haben muss.

    Seeßlen: Oh, das ist gemein …

    … es dürfen auch zwei oder drei sein.

    Seeßlen: Es kommt immer auf die Perspektive an. Der Höhepunkt des Genres war sicherlich in den 70er Jahren mit sehr, sehr realistischen Filmen. Da gehört auf jeden Fall "Dirty Harry" mit dazu. Wenn man sich diese Figur über die insgesamt fünf Filme hinweg näher anschaut, entdeckt man sämtliche Widersprüche, die letztlich zu ihrem Ende führen. Ein interessanter Polizeifilm ist auch "Cop Land" mit Sylvester Stallone, der ziemlich genau zeigt, dass die Polizei sich in eine ziemlich eigene Welt verwandelt hat, in der nichts mehr nach außen dringen soll und in der Cops gegen Cops arbeiten müssen.

    Und wenn man die Perspektive wechselt?

    Seeßlen: Dann kommt man auf die beiden bösesten Polizeifilme: "Bad Lieutenant" von Abel Ferrara, ein Film, der absolut kein gutes Haar mehr an seinem Polizisten lässt. Und Robert Aldrichs "Chorknaben", der sehr genau den Zusammenhang zwischen sozialer Situation und Polizeigewalt zeigt – und der schon vieles von dem vornimmt, was dann erst später journalistisch an die Öffentlichkeit gelangte.

    In unserem aktuellen Schwerpunkt beschäftigen wir uns mit Gewalt gegen Polizisten und Debatten um Polizeigewalt. Hier finden Sie weitere Artikel zum Thema:

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