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Interview: Kränzle: "Klassische Musik verkommt zu einem Zirkus"

Interview

Kränzle: "Klassische Musik verkommt zu einem Zirkus"

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    Der gebürtige Augsburger Johannes Martin Kränzle ist Opern- und Konzertsänger.
    Der gebürtige Augsburger Johannes Martin Kränzle ist Opern- und Konzertsänger. Foto: Christian Palm

    Herr Kränzle, was ist sängerisches Charisma?

    Johannes Martin Kränzle: Ich würde Charisma nicht auf das Singen verengen. Auch Schauspieler und Dirigenten können Charisma haben. Im Bühnenbereich sind das eben Personen, die man sofort wahrnimmt, ohne dass sie viel tun müssen. Man kann das, glaube ich, gar nicht lernen. Das ist eine Gabe, ein Geschenk. Man kann es vielleicht ausbauen, aber nicht herstellen. Man kann es auch Ausstrahlung nennen, man hat sie – oder hat sie nicht. Ich könnte mir vorstellen, Charisma hat etwas mit dem richtigen Timing von Gestik und Mimik zu tun – und mit positiver Ausstrahlung. Es ist auch eine Lebens- und Spielfreude.

    Sie haben Vorzüge vor anderen Sängern. Gibt es Eigenschaften anderer Sänger, die Sie sich selbst wünschen?

    Kränzle: Ja. Ich selbst bin ein emotionaler, augenblicksbezogener Sänger. Jeder Abend gerät bei mir anders – da kann auch was verrutschen. Es gibt akribischere Sänger, bei denen eine Partie genau abrufbar ist. Diesen akribischen Sängern will darum oft Lockeres oder Komisches nicht so recht gelingen. Das ist eine Typfrage.

    Haben Sie eine Idee, warum gerade der Beckmesser aus Richard Wagners "Meistersingern" zu Ihrer Paraderolle weltweit geworden ist – und Sie ihn auch in Bayreuth singen?

    Kränzle: Äußerlich gesprochen: Ich bin ein Deutscher und der deutschen Sprache mächtig. Dazu habe ich das entsprechende Alter und die notwendige sängerische Durchschlagskraft. Aber darüber hinaus hatte ich immer Erfolge mit Figuren, die ambivalent beziehungsweise in sich gespalten sind. Dazu gehört auch der mehr oder weniger zynische Don Alfonso aus Mozarts "Così fan tutte". Wenn ich in der ganzen Welt als Beckmesser gefragt bin, dann liegt das wohl daran, dass ich für diese Partie viel mehr Farben habe als andere. Und weil ich in dieser Rolle keine Witzfigur kreiere, keine Karikatur, sondern dem Beckmesser menschliche Züge und eine menschlich nachvollziehbare Reise mitgebe. Das schätzen übrigens auch die Regisseure. Beckmesser besitzt am Anfang der Oper Hybris und erfährt gegen Ende der Oper Destruktives wie Mobbing und Ausgrenzung beispielsweise.

    Gleichzeitig ist der Beckmesser auch schrullig und gehemmt bis verklemmt. Unabhängig davon, dass Wagner in ihm den jüdischstämmigen Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick aufspießen wollte: Ist die Grundanlage der Figur nicht an sich schon so karikierend, dass man da gar nicht mehr herauskommen kann?

    Kränzle: Wenn man die Argumentationskette Beckmessers genau anschaut, stimmt das ja, was er sagt. Das Unkluge in ihm ist: Er sagt, was er denkt. Und so verspielt er seine Trümpfe allzu schnell. Hans Sachs ist ihm gegenüber viel mehr Stratege und Taktierer.

    Bei der Bayreuther Generalprobe konnten Sie wegen der Nachwehen eines Infekts nicht singen. Wie lief dann diese Generalprobe ab?

    Kränzle: Mein Kollege Martin Gantner, der die Partie auch schon an der Staatsoper München gab, sang vom Bühnenrand aus, ich spielte stumm. Übrigens gab es an einer Stelle Szenenapplaus in dieser geschlossenen Generalprobenvorführung – und man erzählte mir hinterher, das sei der erste Szenenapplaus in der Geschichte Bayreuths gewesen. Die Situation war so: Beckmesser will Eva ein Ständchen singen, aber Sachs besetzt das Terrain durch seinen Schustergesang. Und dann kommt eben die Stelle, wo es aus Beckmesser über das Singen von Sachs rausbricht: "Am End’ denkt sie gar, dass ich das sei". Martin Gantner sang die Passage, ich spielte sie – und wir schauten uns an und fragten uns zusammen mit dem Publikum: Wer ist nun das Ich, wer ist Beckmesser?

    Vom Spontan-Applaus zu folgender Situation: Was ist es für ein Gefühl, wenn ein Haus tobt, Sie aber wissen, es war nicht Ihr bester Abend?

    Kränzle: Das passiert sicher auch. Das ist verkraftbar. Umgekehrt ist es schlimmer, also wenn ich glaube, ich hätte einen tollen Abend gehabt, aber die Publikumsreaktion fällt nicht so aus wie erhofft. Ich beobachte Vergleichbares auch bei anderen Sängern – und sehe: Das Publikum geht stark nach äußerlichen Reizen wie langer, hoher, lauter Ton. Es gibt schon so etwas wie einen Bildungsverlust. Und durch die Festivalkultur verkommt die ganze klassische Musik zu einem Zirkus. Die Konzertveranstalter haben Angst, dass das Publikum nicht mehr bei der Stange bleibt. Immer neue Highlights sind die Folge. Ich entdecke auch einen Verlust an Konzentrationsfähigkeit. Man mag sich nicht mehr recht auf eine dreistündige Sache konzentrieren. Und dann gibt es eben Arienabende. Schnell einsteigen, schnell aussteigen. Häppchenkultur. Ich bevorzuge weiterhin eine ganze, komplette Geschichte. Ich halte mich vom Arienabend fern.

    Was ist Ihrer Meinung nach zu tun, dass klassische Musik wieder breitere Kreise gewinnt? Die Talsohle scheint ja, wie neue Studien zeigen, durchschritten.

    Kränzle: Der Schulunterricht müsste praktisch und sinnlich sein, nicht theoretisch. Es gibt ja das Beispiel "El Sistema" in Venezuela, wo das Musizieren lustvolle Anleitung ist. Wenn das so ein armes Land hinkriegt, müsste es bei uns auch möglich sein... Es geht nur über die Jugend. Über das Machen, über das Selbermachen. Das ist der Schlüssel. Und diesbezüglich geht es schon vor der Schule los, bei den Eltern. In Südkorea wiederum beschäftigt sich jedes Kind aktiv mit klassischer Musik. Deswegen kommen so viele Koreaner zum Studieren zu uns.

    Sie haben Ihr Studium schon lange hinter sich; lassen Sie Ihre Stimme dennoch gelegentlich kontrollieren?

    Kränzle: Zuletzt habe ich diesbezüglich autodidaktisch gearbeitet. Ich hatte mal längere Zeit einen Lehrer zur Kontrolle, aber der ist leider in jungen Jahren schon verstorben. Nun bin ich frisch verheiratet – mit einer Sängerin. Wir beobachten uns gegenseitig. Was noch hinzukommt: Indem ich selber unterrichte, etwa an der Kölner Musikhochschule, merke ich beim Erklären und Vormachen ganz genau, wann ich mich selber neu zu justieren habe.

    2016 erzählten Sie nach Ihrer weiß Gott lebensbedrohlichen, aggressiven Knochenmarkserkrankung, dass Sie das Immunsystem eines Einjährigen haben. Wie steht es heute um Ihr Immunsystem?

    Kränzle: Jetzt ist es drei Jahre alt. Ich muss halt alle Grundimpfungen noch einmal erhalten und mache wieder Kinderkrankheiten durch.

    Man kann Ihre Erkrankung, bei der es 14 Tage lang – rund um eine Knochenmarkstransplantation – auf Messers Schneide stand, auch als eine Nahtod-Erfahrung bezeichnen. Eine Nahtoderfahrung, die bekanntermaßen bei vielen Menschen die Einstellung zum Spirituellen verändert. Wie war es bei Ihnen?

    Kränzle: Das Spirituelle war bei mir nie weg. Aber es hat sich neu belebt. Ich bin manchmal in einer Zwiesprache, im Gebet. Ich glaube auch, dass mein Leben in den Händen von Höherem lag. Da stellt sich dann Demut und Dankbarkeit ein.

    Haben sich in Ihrer Karriere wahre Freundschaften mit anderen Künstlern ergeben?

    Kränzle: Ja. Es gibt in jeder Produktion mindestens zwei Kollegen, mit denen ich mehr unternehme als nur arbeiten. Man versucht sich dann auch zu treffen, wenn man weiß, dass man in nahe beieinander liegenden Opernhäusern auftritt. Michael Volle, der jetzt wieder den Hans Sachs singt in Bayreuth, ist solch ein Freund – und auch der Tenor Rainer Trost.

    Zur Person: Johannes Martin Kränzle, 1962 in Augsburg geboren, ist ein weltweit gefragter Bariton. Neben Papageno (Mozart) und Wozzeck (Alban Berg) gehört der Beckmesser (Wagner) zu seinen Paraderollen – gesungen u. a. an der Met New York, in Glyndebourne und in Bayreuth.

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