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Porträt: Vijay Iyer: Der Physiker des Jazz

Porträt

Vijay Iyer: Der Physiker des Jazz

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    Er gehört zu den großen Jazzpianisten der Gegenwart: Vijay Iyer.
    Er gehört zu den großen Jazzpianisten der Gegenwart: Vijay Iyer. Foto: Ebru Yildiz, ECM Records

    Der Jazz ist eine von Klischees umzingelte Musikgattung. Sie gilt als unbekömmlich, ungeordnet, unfreundlich, unstrukturiert – blankes Chaos eben. Das Moderne wirkt inmitten des Mainstreams und seinen konditionierten Hörgewohnheiten nicht selten wie ein Stachel im Fleisch, die musikalische Herausforderung begreifen viele als intellektuellen Dünkel. Wenn der amerikanische Pianist Vijay Iyer dann auch noch sein aktuelles Album „Uneasy“ (ECM/Universal) nennt, so scheint der Titel schon vor dem ersten Ton jedes Vorurteil zu bestätigen.

    Uneasy – nicht leicht. Also besser Finger weg. Kein Kaufargument. Warum tut er das? Wer Vijay Iyer kennt, diesen im Grunde immer freundlichen, pausenlos grübelnden Zeitgenossen, wer seine bisherigen Veröffentlichungen genauer unter die Lupe nimmt, der muss sich nicht wundern. Der Besitzer eines Bachelors in Mathematik, eines Masters in Physik, eines interdisziplinären Doktortitels der Technologie und Geisteswissenschaften, der Harvard-Professor und pianistische Autodidakt, als solcher Gewinner eines Grammys, wägt jedes Wort, jede gespielte Note penibel ab.

    Improvisation, dieser ganz spezielle Moment, in dem alles spontan geschehen soll, ist für ihn nichts weiter als noch eines dieser romantischen Jazzklischees. „Zu spielen und zu sprechen, das sind für mich absolut vergleichbare Vorgänge“, stellt er klar. „Man gibt in beiden Fällen ein Statement ab. Und ich finde es schon erstrebenswert, wenn jemand zuerst überlegt, bevor er den Mund aufmacht. Bei Improvisation geht es darum, einen mechanischen und gedanklichen Prozess miteinander in Einklang zu bringen. Musik kommt aus dem Gehirn, woher sonst?“

    Die Wahrheit ist nun mal sperrig, schwer verdaulich und tut mitunter auch weh

    Das Prinzip des „Nix-Denkens-einfach-Spielens“, für eine Reihe von Tastenkollegen die Ultima Ratio, wird es bei Vijay Iyer nie geben. Vielleicht gerade deshalb gilt er als Galionsfigur des modernen Jazzpianos. Dazu benutzt er keine populistischen Taschenspielertricks, keine versöhnlichen Zuckerguss-Harmonien, keine modischen Grooves. Die Wahrheit ist nun mal sperrig, schwer verdaulich und tut mitunter auch weh. Dass es dem Indo-Amerikaner einmal mehr gelingt, mit seinem aktuellen Album ein extrem musikalisches und vor allem hochrelevantes Stück Musik zu formen, gehört zu den vielen faszinierenden Ungereimtheiten in seiner Vita. Dies tut er noch dazu im Trioformat, der traditionellsten, von vielen längst totgeschriebenen Besetzungsform des Jazz.

    „Uneasy“, das im Dezember 2019 – also vor Beginn der Pandemie – entstand, bündelt den amerikanischen Schmerz des 21. Jahrhunderts wie unter einem Brennglas und nimmt unbewusst so manche Entwicklung vorweg. Einige der zehn Titel legen den Finger in die offenen Wunden des Landes, beleuchten politische und gesellschaftliche Missstände und mäandern zwischen „aufkeimender Hoffnung und sich abzeichnenden Bedrohungen“, wie Vijay Iyer es beschreibt.

    Schon das Coverfoto bringt die ganze Zwiespältigkeit auf den Punkt. Es zeigt die Freiheitsstatue in einer Schwarz-Weiß-Doppelbelichtung; verschwommen und grau, scheinbar gefangen in einem Wolkenteppich, der direkt über dem Meer hängt. Das, was die Vereinigten Staaten einst von anderen abhob, scheint in weite Ferne gerückt, aber noch immer nicht endgültig verblasst. Iyer ringt um eine Deutung: „Die Freiheitsstatue wirkt hier nicht mehr wie ein stolzes Symbol, sondern wie ein Auslaufmodell, an dem der Zahn der Zeit nagt.“ Das Monument, das Frankreich 1886 den USA anlässlich des Endes der Sklaverei schenkte, jenes klassische Symbol der Freiheit, könnte heute genauso gut auch für die Abschaffung derselben stehen, sinniert der Pianist.

    Vijay Iyer hat für "Uneasy" an einer neuen Kreativ-Allianz gebastelt

    Um diese und andere Fragen befriedigend beantworten zu können, bastelte Vijay Iyer an einer neuen Kreativ-Allianz. Dass dabei kein synthetisch zusammengepapptes Konglomerat, sondern ein organisches, fast zwingend notwendiges Bündnis mit zwei herausragenden Individualisten, die er seit Jahren sowohl in gemeinsamen Projekten wie auch zwischenmenschlich schätzen lernte, ist ein Glücksfall. Jetzt stehen die Bassistin Linda May Han Oh und der Schlagzeuger Tyshawn Sorey erstmals an seiner Seite – Bruder und Schwester oder Cousin und Cousine im Geiste. Sie kennen sich aus dem Effeff und vertrauen einander blind. Schon bald spürten die drei, dass ausgerechnet in dieser Konstellation Dinge möglich schienen, die sie so noch nie zuvor erlebt hatten. Drei Verschwörer auf ihrem abenteuerlichen Weg durch Labyrinthe, steinige Felswände, Blumengärten, Wüsten und Galaxien.

    Dazu bedarf es nicht einmal neuer Kompositionen. Vijay Iyer, der im Oktober 50 wird, sammelt seit Mitte der 1990er Jahre Stücke, die sich der Zeit anpassen. Wie das titelgebende Stück „Uneasy“, 2011 im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Karole Armitage entstanden, zehn Jahre nach 9/11. Iyer war schon immer New Yorker, geboren in Albany, heute in Harlem lebend. Jeder Tag danach habe sich seltsam angefühlt, sagt er. Die Stimmung in der Stadt sei eine andere gewesen, feindseliger, misstrauischer, vor allem gegenüber nicht-weißen Amerikanern. Es folgten die Obama-Jahre: Eine seltsame Gemengelage aus Hoffen und Unbehagen, ein fortwährendes Pendeln zwischen guten und bedrohlichen Nachrichten, zwischen Care Act und Drohnenkrieg, Homo-Ehe und Massenabschiebungen. Nun ist ein weiteres Jahrzehnt vergangen, und „Uneasy“ transportiert mehr als neun Minuten lang die Sprünge zwischen bleiernen Gedanken und vorsichtigem Optimismus so fein pointiert wie ein detailreicher Cartoon.

    Der Skandal um bleiverseuchtes Grundwasser in einer Kleinstadt in Michigan wird auch Thema

    Oder der Opener „Children Of Flint“: Er rückt den 2016 aufgedeckten Skandal um bleiverseuchtes Grundwasser in der Kleinstadt Flint in Michigan ins Hörfeld, durch den rund 100.000 Menschen überwiegend afroamerikanischer Herkunft gesundheitliche Schäden erlitten, weil die Behörden einfach wegschauten. Das Stück – ursprünglich für Solobratsche geschrieben – transportiert die kollektive Angst mithilfe fragiler Strukturen. Dazu „Combat Breathing“, eine Auftragskomposition der Brooklyn Academy Of Music, die 2014 unter dem Eindruck der gewaltsamen Tode der Afroamerikaner Michael Brown, Eric Garner und Tamir Rice durch Polizeibeamte entstand. Da Kunst auch die Aufgabe hat, die Menschen wachzurütteln, initiierte Iyer zusammen mit der Choreografin Paloma McGregor bei der Uraufführung spontan eine Solidaritätsaktion für die Black-Lives-Matter-Bewegung: ein „Die-In“, bei dem sich 30 dunkelhäutige Menschen auf die Bühne legten. Es sei das Mindeste gewesen, was er in dieser Situation vor einem zu 95 Prozent aus Weißen bestehenden Konzertpublikum habe tun können, sagt der Pianist. „Ich wollte den Raum für andere öffnen, ihn nicht zu meinem Raum, sondern zu einem Raum für kollektives Handeln machen.“

    In gewisser Weise definiert dieser Raum auch den Bereich, in dem das Trio agiert: offen, frei, feinstofflich hochwertig, riskant, ständig in Bewegung, zu jeder Millisekunde auf Augenhöhe und tatsächlich demokratisch ohne jedwede hierarchische Tendenz. Ohs Bass und Soreys Drumset wirken nie wie versklavte Rhythmusinstrumente, sondern lassen Melodieformen keimen und verbieten sich jede Art von Egotrips. Iyers Bandleaderfunktion mag sich aus den acht Kompositionen herleiten lassen, die er beisteuert. Ansonsten herrscht Parität in jeder Hinsicht. Es gibt nicht wenige Pianotrios, denen so etwas bislang gelang, Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette vielleicht. Nun beginnt die Zeit von Vijay Iyer, Linda Oh und Tyshan Sorey. Es dürfte keine leichte werden. Aber eine, die die Musik voranbringt.

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