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Schriftsteller wird 85: Hans Magnus Enzensberger: Mittendrin im Tumult

Schriftsteller wird 85

Hans Magnus Enzensberger: Mittendrin im Tumult

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    Hans Magnus Enzensberger 1968 am Mikrofon in der TU Berlin während einer Veranstaltung der APO. Links der Kommunarde Rainer Langhans.
    Hans Magnus Enzensberger 1968 am Mikrofon in der TU Berlin während einer Veranstaltung der APO. Links der Kommunarde Rainer Langhans. Foto: Ullstein

    Mit 85 hat man was zu erzählen. Vor allem, wenn das Leben so reich an Ereignissen war wie das von Hans Magnus Enzensberger, geboren heute vor 85 Jahren in Kaufbeuren. Kleiner Auszug: Mitglied der Schriftstellervereinigung Gruppe 47, Büchner-Preis mit 33, Gründer der Kulturzeitschriften Kursbuch und Transatlantik, Herausgeber der Anderen Bibliothek – und dazu und insbesondere Verfasser von Essays, Theaterstücken, Romanen, ungezählten Gedichten. Immer wieder auch Stichwortgeber öffentlicher Debatten. Enzensberger ist der elder statesman unter den deutschen Literatenintellektuellen, in seiner Wirkkraft nur noch vergleichbar mit Grass oder Walser. Ein Kopf, von dem man eines gerne lesen würde: seine Autobiografie.

    Autobiographie kommt für Enzensberger nicht in Frage

    Kommt ihm nicht in die Tüte. Erinnerungen in eigener Sache, das liefe doch nur auf Lug und (Selbst-)Betrug hinaus, argumentiert Enzensberger in seinem neuen Buch „Tumult“ – und macht mit eben diesem gleich eine Ausnahme, denn: „Konsequenz war nie meine Stärke“. Im Keller, so erklärt er seinen Umschwung, stieß er auf ein Bündel alter Aufzeichnungen. Berichte über Reisen in die Sowjetunion in den Jahren 1963 und 1966 sowie Notizen aus den Folgejahren. Autobiografisches also, was bei diesem Autor freilich heißt: alles andere als geschwätzig.

    Das zentrale Kapitel von „Tumult“ bildet ein Dialog über den Zeitraum zwischen 1967 und 1970. Ein Gespräch zwischen Enzensberger – und ihm selbst: Der Mittachtziger befragt den weniger als halb so alten Enzensberger. Kein „Verhör“, keine „Beichte“, irgendwas dazwischen. Es sind, so stellt sich heraus, Themen, die ihn auch nach fast einem halben Jahrhundert immer noch umtreiben. „Ich möchte“, fordert der Betagte sein jüngeres Ego auf, „daß du ... diese alte Geschichte zu Ende bringst.“ Es geht um zweierlei: um Enzensbergers Abkehr von der sozialistischen Utopie; und um Mascha, seine zweite Ehefrau.

    "Tumult" bestimmt sein Leben

    Auf der Reise in die Sowjetunion hat er sie kennengelernt, die damals 23-jährige Maria Makarowa, Tochter russischer Literaten mit einer Augenfarbe von „tartarischem Blau“. Enzensberger, verheiratet mit einer Norwegerin, ist vom Fleck weg bezaubert und so beginnt, wie er es nennt, „mein russischer Roman“. Beide lassen sich scheiden, heiraten, Mascha übersiedelt nach Berlin. Doch schnell kommt es zu Verständnisschwierigkeiten zwischen dem Paar. Enzensberger schreibt, dass Mascha nicht auf „die Normalität eines Daseins“ gefasst gewesen sei, „das von meiner Arbeit, von engen Beziehungen, mannigfachen Freundschaften und Gewohnheiten geprägt war. Das schien sie zu überraschen und zu verwirren. Warum konnte ich es ihr nicht nachtun – so wie sie alles liegen- und stehenlassen und mit ihr ganz von vorne anfangen?“ Vorwärtsflucht scheint geboten. Die beiden gehen in die USA, wo Enzensberger ein Stipendium erhalten hat, und ziehen wenig später weiter nach Kuba.

    Kein "Asyl" für Rote Armee Fraktion

    Die Zeit mit Mascha ist voll innerer Turbulenzen – auch in anderer Hinsicht. Enzensberger, der seinen Berliner Wohnsitz nicht aufgibt und hierhin immer wieder zurückkehrt, erlebt die aufflammende außerparlamentarische Protestbewegung hautnah mit. Für ihn sind das zweischneidige Empfindungen. Einerseits setzt auch er auf eine Erneuerung der Gesellschaft unter sozialistischen Vorzeichen; auf der anderen Seite sieht er in vielem, was die Protestler veranstalten, nichts als „Straßentheater“. Er ist nah dran, sein Bruder Ulrich und seine geschiedene Frau Dagrun sind Mitglieder der Kommune 1, eines Tages begehren sogar Baader, Meinhof und Ensslin Unterschlupf in seiner Wohnung, erfolglos. Enzensberger jedoch bleibt dem Protest gegenüber auf Distanz, entzieht sich letztlich dem ganzen „Tumult“.

    Sozialismus ist zum Scheitern verurteilt

    In Kuba ist man weiter, hier gibt es den Sozialismus, noch dazu nicht in sowjetischer, sondern tropischer, scheinbar entspannterer Variante. Doch auch wenn Enzensberger von vielen interessanten Begegnungen zu berichten weiß, auch wenn Mascha hier einigermaßen Fuß fasst – die Realexistenz der Menschen auf Kuba kann dem wachen Blick des deutschen Schriftstellers letztlich nichts vorgaukeln. Was er schon auf den Reisen in die Sowjetunion sah, erkennt er auch hier: Der Sozialismus ist zum Scheitern verurteilt, die lange gehegte Utopie erweist sich als morsch. Und was das Private betrifft: Auch das Verhältnis zu Mascha besitzt keine Stabilität. Bittere Erkenntnisse. Wie weiter?

    Gemäßigter Enzensberger bleibt kritisch

    Enzensberger häutet sich, justiert seine Positionen neu. Und siehe da: „Zu meiner Überraschung zeigte sich, daß unser wüstes Land“ – gemeint ist Deutschland – „ganz allmählich, fast hinter unserem Rücken, immer bewohnbarer wurde.“ So steht es in einer Nachschrift zu den Protest- und Kuba-Erfahrungen, datiert „1970 ff.“. So besänftigend das klingt, hat es den Schriftsteller doch bis heute nicht davon abgehalten, Politik und Gesellschaft mit kritischem Blick zu verfolgen. Aber auch zum „russischen Roman“ gibt es nachgereichte Zeilen. Mascha, von der er sich 1970 trennte und der er nur noch einmal begegnete, nahm sich 1991 das Leben.

    Auch wenn Hans Magnus Enzensberger in „Tumult“, besonders im darin enthaltenen großen Dialog mit sich selbst, immer wieder das Visier herablässt an Stellen, wo er Gefahr wittert, zu viel aus seinem Gefühlsleben preiszugeben: So nah ist man dem Schriftsteller noch in keinem seiner Bücher gekommen.

    Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Suhrkamp, 287 Seiten, 21,95 Euro

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