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Straßenfotografie: Vivian Maier - das Kindermädchen mit der Kamera

Straßenfotografie

Vivian Maier - das Kindermädchen mit der Kamera

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    Immer wieder vergewisserte sie sich in Selbstporträts: Vivian Maier 1958.
    Immer wieder vergewisserte sie sich in Selbstporträts: Vivian Maier 1958. Foto: Vivian Maier/ Schirmer Mosel

    Plötzlich war sie da, die große Unbekannte. Ihr Werk: eine Entdeckung, ein Schatz, der zufällig gehoben wird. Solche Geschichten liebt die Kunstwelt, liebt der Markt. Da ist eine Frau, die 40 Jahre als Kindermädchen arbeitete, aber auch lebenslang fotografierte. Für sich. In den Straßen von Chicago, in New York. Die Frau, die als Einzelgängerin so unauffällig daherkam, aussah „wie eine altbackene Gouvernante“, hinterließ 140.000 Aufnahmen.

    Mit einer Entdeckung betritt sie vor zehn Jahren die Bühne der Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Vivian Maier, geboren 1926, gestorben 2009. Kurz vor ihrem Tod fand ein Fotohistoriker und Kenner, John Maloof, der an einem Buch über sein Stadtviertel in Chicago arbeitete, zufällig die ersten Negative der Frau, die dann sehr schnell in den Olymp der Straßenfotografie aufstieg – in einem Atemzug genannt mit den großen Namen wie Robert Frank, Lee Friedlander, Henri Cartier-Bresson, Diane Arbus oder Joel Meyerowitz. Es gibt Ausstellungen mit ihren Schwarzweiß-Aufnahmen weltweit, Fotobände erscheinen, ein Kinofilm, Interesse, Verblüffung und Verehrung allenthalben. Nun hat die Erzählung um Vivian Maier noch einen weiteren Dreh bekommen – und die Entdeckung eines erstaunlichen Werkes wird fortgeschrieben mit Farbfotos. In Vivian Maiers Nachlass fanden sich nämlich nicht nur zehntausende Negative, sondern auch Kisten voller Farbdias von den Fünziger bis in die Achtziger Jahre. Man weiß nicht einmal, ob Maier das Material, das roh und sortiert erschien, zu Lebzeiten je angeschaut hat. Ihre Nachlassverwalter haben es getan. Aus dem Farbfund destillierten sie für die Nachwelt einen Bildband, der belegt, was Joel Meyerowitz schreibt: „Vivian Maier war eine frühe Poetin der Farbfotografie.“

    Vivian Maier war furchtlos Fremden gegenüber

    Ihre Motive fand die Frau, die in ihrer Freizeit durch die Straßen streifte, eben dort: auf der Straße. Passanten, Kinder, Schaufensterpuppen, Läden, Alltagsszenen und Details aus dem öffentlichen Raum und immer wieder Selbstporträts als Schattenfigur oder als Gesicht in einem Spiegel. Maier hatte einen sehr genauen Blick für die beiläufigen Erscheinungen, Gesten und Ausdrucksformen des öffentlichen Lebens. Und sie war, das verblüfft immer wieder, furchtlos Fremden gegenüber. Meyerowitz meint, ihre unauffällige Erscheinung als biedere Großstadt-Touristin und ledige Tante sei die perfekte Tarnung gewesen. „Als Kindermädchen war sie mit Fug und Recht draußen und durfte alle Bilder machen, die sie interessierten.“ Argwohn erweckte diese Frau nicht. Nur so konnte sie Passanten unbeobachtet im entscheidenden Moment „ungestellt“ fotografieren.

    Man kann Vivian Maier nicht mehr befragen. Nicht zu ihrer Motivation, nicht zu ihrer Art des Sehens, ihrer Arbeitsweise. Auch nicht zum Einfluss von anderen Fotografen auf ihre Arbeit. Was bleibt, sind die Bilder. Viele sind nur vage zuzuordnen, und bei einigen steht schlicht: „Ort und Datum unbekannt.“ Was auffällt, ist: Vivian Maier fotografierte ohne Auftrag, ohne Bildprogramm, ohne Druck. Sie war einfach unterwegs mit ihrer Kamera, sie schaute und fand. Eine Jägerin ohne Beuteschema. „Here’s a real eye opener“, lesen wir auf einem Zettel, der in einer transparenten Plastiktüte auf dem Boden liegt. Rechts daneben der Schattenriss einer Frau mit Hut. Dieses Selbstporträt von 1976 ist eine Art Selbstauskunft der Vivian Maier. „Hier ist ein wahrhaftiger Augen-Öffner.“ Was man in Maiers Fotos sehen kann, ist auch eine langsam verschwindende Lebensweise. Männer tragen Anzug und Hut, Frauen Pelz und Kleider. Über ein Dutzend Bilder hat alleine die Zeitung als typisches „Accessoire“ im Straßenbild zum Motiv. Menschen, die Zeitung lesen, eine verwehte Zeitungsseite auf der Straße, ein Kiosk. Explizit augenfällig wird in Vivian Maiers Dias auch ein Gespür für Farben. Bunte gemusterte Kleidung, neonfarbene Luftballons, rote Autositze … Das Glück ist der absichtslos aufmerksamen Flaneurin hold. Irgendwann kommen diese Touristen um die Straßenecke: Zwei Herren in dottergelben Shorts und Socken, ihre Begleiterin im gelben Rock.

    Menschen waren ihr wichtigstes Motiv

    Die vielen Selbstporträts eingerechnet waren Menschen Maiers wichtigstes Motiv. Und doch findet ihr Auge immer wieder Stillleben, die zu ihren besten Bildern gehören. Ein Garderobenständer, an dem ein graues Jackett hängt; stumme Schaufensterpuppen. Vielleicht ist der Hype um Vivian Maier übertrieben. Er speist sich aus einem Aschenputtelmythos. Eine ausgezeichnete Fotografin war sie allemal.

    Vivian Maier: Die Farbphotographien Mit Texten von Joel Meyerowitz und Colin Westerbeck, Schirmer Mosel, 240 S., 58 Euro

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