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Weltliteratur: Warum Robinson Crusoe 300 Jahre nach Erscheinen immer noch fasziniert

Weltliteratur

Warum Robinson Crusoe 300 Jahre nach Erscheinen immer noch fasziniert

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    Vor ziemlich genau 300 Jahren erschien in England der Roman "Robinson Crusoe" des Autors Daniel Defoe.
    Vor ziemlich genau 300 Jahren erschien in England der Roman "Robinson Crusoe" des Autors Daniel Defoe. Foto: Mannaggia Adobe Stock

    Ein junges Paar spaziert ins Meer hinaus. Mit Schnorchel und Schwimmflossen und chic dabei – so werben die beiden für eines dieser „paradiesischen“, also mit allem Komfort ausgestatteten Fernreiseziele. Wer den Klub-Urlaub „Super Last Minute“ bucht, spart ein paar hundert Euro, sagt die „Robinson“-Website. Also nichts wie weg.

    Der eigentliche Robinson wollte dagegen nur eins: nach Hause. Aber so kann’s gehen, wenn man seit 300 Jahren Sehnsüchte nährt. Daniel Defoes berühmteste Titelfigur ist nicht nur zum Prototyp unfreiwilliger Inselhelden und ihrer künstlerischen Verarbeitung geworden, sondern auch zum Paten der Sonne-Wasser-Strand-Jetter.

    Robinson Crusoe: Ein Monument der Literaturgeschichte

    Die selbst gebastelte Tierhautausrüstung wurde von Bermudas, Bikinis und Neoprenanzügen ersetzt. Statt eines „großen, plumpen und hässlichen Schirms aus Ziegenfell“ trägt man angesagte Sonnenbrillen und setzt sich am besten gleich unter die Lichtschutzsegel der Klubterrasse. Und der Eskapismus, für den Crusoe letztlich bereits instrumentalisiert ist, ist zum flockigen „Raus aus dem Alltag“ geworden.

    Daniel Defoes am 25. April 1719 in London erschienener Erfolgsroman ist dennoch ein Monument der Literaturgeschichte geblieben und gehört zu den weltweit am meisten gelesenen Büchern. Sein Originaltitel erzählt die Geschichte in kurz und ist selbst fast schon eine Kurzgeschichte: „Das Leben und die außergewöhnlich erstaunlichen Abenteuer des Seefahrers Robinson Crusoe aus York, Seemann, der acht und zwanzig Jahre lang allein auf einer unbewohnten Insel vor der Küste Amerikas unweit der Mündung des großen Flusses Oroonoque lebte, an deren Strand er nach einem Schiffbruch geworfen wurde, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst zu Tode kam. Nebst einem Bericht, wie er wundersam durch Piraten gerettet wurde. Geschrieben von ihm selbst.“

    Defoe trieben politische, ökonomische und religiöse Missstände um

    Dieser vermeintliche Tatsachenbericht, den Defoe (1660–1731) in routiniertem Reportagestil schilderte, musste noch im Jahr der Erstveröffentlichung gleich dreimal nachgedruckt werden. 59 war der Autor da bereits und ein Vielschreiber, der mit zeitkritischen, aufklärerischen Pamphleten von sich Reden gemacht hatte. Politische, ökonomische und religiöse Missstände trieben ihn um, und unter bald 200 Pseudonymen verbreitete er Satiren oder Schmähschriften – darunter auch gegen die Intoleranz der anglikanischen Kirche.

    Seine Kritik bezahlte er teuer. Als herauskam, wer „Das kürzeste Verfahren mit den Dissentern“ (mit den abtrünnigen Protestanten also) verfasst hatte, kam Defoe, selbst ein Dissenter, 1703 ins Gefängnis. Er hatte mit bitterer Ironie geraten, sie ohne großes Vertun totzuschlagen. Die Strafen trieben ihn dann schnell in den Ruin. Wieder mal.

    Crusoe-Autor Defoe besaß kein Talent für die Buchhaltung

    Der überaus zivilisierte Autor Daniel Defoe, porträtiert in einem Stich aus dem 19. Jahrhundert
    Der überaus zivilisierte Autor Daniel Defoe, porträtiert in einem Stich aus dem 19. Jahrhundert Foto: Georgios Kollidas , adobe

    Schon sein Handel mit Tabak und Wein samt vieler Auslandsreisen hatten nicht zum erhofften wirtschaftlichen Erfolg geführt. Der Kaufmann, der eigentlich dazu bestimmt war, Geistlicher zu werden, besaß kein Talent für die Buchhaltung. Er sei „dreizehnmal reich und wieder arm“ gewesen, wird Defoe am Ende seines Lebens resümieren. Man kann dem allerdings auch entnehmen, dass er sich nie entmutigen ließ.

    Vor allem aber hatte er ständig neue Ideen und eine überschäumende Fantasie. Defoe konnte Erfundenes und Wahres perfekt miteinander verschmelzen. Und „Robinson Crusoe“ wurde sein Virtuosenstück. In einem schottischen Matrosen fand Defoe dafür den idealen Informanten: Alexander Selkirk verbrachte die Jahre zwischen 1704 und 1709 auf der einsamen Pazifikinsel „Isla Más a Tierra“ (seit 1966 „Isla Robinson Crusoe“ genannt), ausgesetzt von Piraten.

    Die Geschichte von Robinson Crusoe war zu gut erzählt

    Selkirk hatte eine Bibel dabei, baute sich ein Lager, und als seine Kleidung zerschlissen war, nähte er sich ein neues Gewand aus Ziegenfellen wie später Robinson. Defoe verlegte das Ganze nur auf eine Karibikinsel und erfand neben Kannibalen darauf auch Dattelpalmen, Kakaobäume und sogar Seehunde, die es im tropisch feuchtheißen Klima gar nicht gibt.

    Was richtig oder falsch war, hat keinen interessiert, die Geschichte war zu gut erzählt. Und ein gottesfürchtiger Kerl, der in der Bibel liest, ein Kreuz aufstellt, in das er jeden Tag eine Kerbe schlägt, und dazu noch einen „guten“ Wilden namens Freitag rettet und missioniert, taugte zum Vorzeige-Christen. Ganz zu schweigen vom brennenden Interesse an fremden Ländern, an der Exotik und einem gewissen Grusel. Und wer sich in der größten Aussichtslosigkeit nicht hängen lässt, dem hilft auch Gott.

    ---Trennung Von Anfang an gab es Kritiker des Romans Trennung---

    Damit konnte man Robinson Crusoe gleich noch zum Vorbild für die Jugend deklarieren – der französische „Zurück zur Natur“-Philosoph Jean-Jacques Rousseau etwa empfahl das Buch wärmstens für Kinder. Und ein Happy End gibt’s auch noch, was wollte die Leserseele also mehr?

    Doch bei allem Jubel der Zeitgenossen und erst recht der Nachwelt mit ihren endlosen Adaptionen, gab es von Anfang an Kritiker. Nur wenige Monate, nachdem der Bestseller 1719 auf den Markt gekommen war, fuhr der Literat Charles Gildon eine geistreiche, humorvolle Attacke. In seinem Dramolett „Gegen Defoe“, das diese Woche erstmals auf Deutsch erscheint, stellen Robinson und Freitag ihren Erfinder zur Rede und lassen ihn am Ende seine zwei Bände aufessen.

    Freitag wird kolonialisiert - das stößt heute auf

    Die beiden beklagen sich bitter über allerlei Ungereimtheiten, besonders regt sich Freitag darüber auf, gebrochenes Englisch sprechen zu müssen: „Du mich verletzt, du mich großen Dummkopf gemacht, mit viel Widerspruch: Nach ein zwei Monaten bisschen gut Englisch sprechen können und zwölf Jahre später nicht besser.“

    Das sitzt bis heute, erst recht, wenn man bedenkt, dass dieser Protest im frühen 18. Jahrhundert formuliert wurde, als sich – scheinbar – niemand an solchen Herabwürdigungen gestört hat. 300 Jahre danach stößt freilich nicht nur das mangelnde Sprachvermögen Freitags auf, sondern vor allem das gar nicht so sanfte Bekehren zu einem europäischen und damit überlegenen Lebensstil. Der Gefährte wird jedenfalls lange nicht nur durch ein Paar Leinenhosen aus der Seemannskiste kolonialisiert.

    Robinson Crusoe ist ein packender Klassiker

    Die Beziehung bleibt ambivalent, daran lässt sich nicht deuteln. Aber das hat in der jüngeren Rezeptionsgeschichte auch zu interessanten Umdeutungen und Korrekturen geführt. Im Abenteuerfilm „Man Friday“ („Freitag und Robinson“) aus dem Jahr 1975 dreht Regisseur Jack Gold den Spieß um, indem sich Freitag (Richard Roundtree) dagegen wehrt, als Sklave behandelt zu werden, und die Werte Crusoes (Peter O’Toole) infrage stellt. Wobei Robinson schon für den Iren James Joyce der Prototyp des britischen Kolonialisten war.

    Nichtsdestotrotz zählt Defoes Roman zu den packenden Klassikern, die Auseinandersetzung wird so schnell nicht aufhören, wenngleich die gekürzten Jugendausgaben lange nicht mehr den Absatz finden wie noch in den 1960er und 1970er Jahren. Zum 300. Robinson-Geburtstag hat Rudolf Mast für den Mare Verlag eine Neuübersetzung in ein wohltuend zeitgemäßes Deutsch vorgelegt – die letzte liegt bereits 40 Jahre zurück.

    Wer einen Abenteuerroman mit viel Inselromantik erwartet, wird mit der ungekürzten Übertragung nicht glücklich werden. Dafür liest man von den Skrupeln Robinsons, wenn er ein Urteil über die Eingeborenen oder Kannibalen fällt, das ihm als Außenstehenden im Grunde nicht zustehe, wie er sagt. Das koloniale Denken ist keineswegs „wegübersetzt“, doch als chauvinistischer Herrenmensch gebärdet sich dieser Robinson Crusoe nicht.

    Die Bücher

    Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Mare Verlag, 400 S., 42 Euro

    Charles Gildon: Gegen Defoe. Friedenauer Presse, 24 S., 12 Euro

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