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Flüchtlingsschicksal: Was Tränen bewirken können

Flüchtlingsschicksal

Was Tränen bewirken können

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    „Ich wollte nicht weg von hier.“ Das ist der Kernsatz in der Biografie von Reem Sahwil, „Merkels Flüchtlingsmädchen“. Das Kind einer palästinensischen Familie, jetzt 16 Jahre alt, schrieb das in dieser Woche erschienene, 200-seitige Buch mit Unterstützung der Ghostwriterin Kerstin Kropac. Ihre Themen sind Lagerleben, Flucht, Verwerfung, Krankheit, Schulleben, Freunde – und über all dem Deutschland. Reems Sehnsuchtsland, ihre neue Heimat.

    Im August 2015 besuchte Bundeskanzlerin Merkel eine Realschule für Körperbehinderte in Rostock. Unter den Schülern war die 14-jährige Palästinenserin, deren Eltern für sich und die drei Geschwister Reems einen Asylantrag gestellt hatten. Bis heute leben sie im befristeten Duldungsstatus. Reem hat von Geburt an einen Gehfehler, der medizinisch behandelt wird. Die TV-Kameras liefen, Merkel sprach – und plötzlich hatte Reem ein Mikrofon in der Hand. Da habe sie drauflos geredet, ihre Gefühle herausgelassen, geweint. Merkel tröstete Reem, umarmte sie, sprach beruhigend auf sie ein. Für Reem war allein die Tatsache, bei dem Bürgergespräch gewesen zu sein, eine große Sache. Eigentlich wollte sie nicht, aber ihr Vater hatte sie ermutigt.

    Die Folgen: Aus dem „Das können wir nicht schaffen“, das zu diesem Zeitpunkt die Kanzlerin Reem erklärte, wurde wenige Tage später bei der Berliner Bundespressekonferenz am 31. August ihr berühmter Spruch „Wir schaffen das“.

    Reem erzählt, dass sie gehört habe, dass die Begegnung mit der Kanzlerin deren Grundhaltung verändert habe, meint aber: „Ich glaube nicht, dass ich so wichtig bin.“ Sie sei in Tränen ausgebrochen, weil Merkels Hinweis nur bedeuten konnte, dass die Familie nicht bleiben könne. Den Shitstorm im Internet über die angeblich kaltherzige Kanzlerin habe sie kaum wahrgenommen.

    Reem hat eine leidvolle Kindheit hinter sich. Geboren im Flüchtlingslager Wavel im Ostlibanon, wurde sie wegen der schlechten medizinischen Versorgung nicht ausreichend beatmet. Sie wuchs nur langsam und saß im Rollstuhl. Heute noch sind Teile ihres Körpers gelähmt. 2010 flog die Mutter mit ihr nach Düsseldorf zu einer Stammzellentherapie. Danach ging es nach Malmö, doch Schweden wies die Teilfamilie zurück. Sie landete in einer Flüchtlingseinrichtung in Mecklenburg-Vorpommern. Der Flüchtlingsverteilungsschlüssel schließlich brachte die Familie nach Rostock; der Vater war über die Balkanroute dazugekommen, er hatte im Libanon kein Ausreisevisum erhalten.

    Dass Reem Sahwil und ihre Begegnung mit Merkel zum Schlüsselmoment der deutschen Einwanderungspolitik wurde, das ist der Sechzehnjährigen nicht so wichtig, obwohl sie sichtlich dankbar ist. „Wir leben alle zufrieden in Rostock“, schreibt sie. „Wir haben hier nicht nur unser Zuhause, sondern vor allem auch zu uns gefunden.“ Rechte Stimmen behaupten bis heute, Reem habe israelfeindliche Äußerungen gemacht. Der Buchverlag hat sie beraten, das Thema Politik außen vor zu lassen. Sie schreibt über ein tolerantes Zusammenleben verschiedener Religionen und erzählt, dass ihre Großmutter einst mit einer Jüdin eng befreundet war.

    Im April 2016 sprach die Kanzlerin mit der Palästinenserin und ihrer Schulleiterin noch einmal im Kanzleramt. Eine halbe Stunde dauerte das Gespräch. Merkel fragte besorgt, ob Reem sich beruhigt habe. Im Oktober dieses Jahres endet der Duldungsstatus der staatenlosen Familie Sahwil in Rostock.

    , Verlag Heyne, München, 239 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro

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