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Literatur: Wilder Sex in Berlin, heile Welt in Schwaben

Literatur

Wilder Sex in Berlin, heile Welt in Schwaben

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    Das Autorinnenduo Marlene Stark (links) und Anna Gien.
    Das Autorinnenduo Marlene Stark (links) und Anna Gien. Foto: Julien Menand

    Ist es ein Akt der Befreiung, tabulos, ja pornografisch und schmutzig über Sex zu schreiben? War es das damals, als es gegen gesellschaftliche Widerstände und moralische Empörung der Marquis de Sade oder Henry Miller taten? Und ist es das jetzt, im Zeichen des Feminismus, wenn es in auffallend zunehmender Frequenz Frauen schreiben? Und was hat das mit Rain am Lech und Dillingen an der Donau zu tun?

    Was jedenfalls vor Jahren mit der Französin Virginie Despentes und hierzulande mit Charlotte Roche begann, hat inzwischen Konjunktur mit Büchern wie Corinna T. Sievers „Vor der Flut“ oder dem aktuell stark diskutierten „M.“ vom Autorinnenduo Marlene Stark und Anna Gien. Denn gerade Letzteres ist ein krasses Buch, neben dem etwa E. L. James’ Weltbestseller „Fifty Shades of Grey“ als das verklärte Märchen erscheint, das es ja im Kern auch ist. Eine Litanei aus ungefähr 250 Frauenvornamen steht am Beginn von „M.“, dann geht es mit der durchweg so abgekürzten Titelfigur auf Tour: zwischen Events als Künstlerin und DJane in immer neue Sex-Abenteuer in immer neuen Konstellationen. Es ist Berlin-Neukölln, eine hippe Szene, die mit ihrer Hingabe an Schmutz, Fetisch und Rollenspiele völlig enthemmt wirkt – aber dabei alles andere als befreit und glücklich.

    Und es wirkt über das Buch hinaus wie ein Diktum über unsere Zeit, wenn die Autorinnen Marlene Stark und Anna Gien über ihre „M.“ sagen: „Die Selbstermächtigung läuft ins Leere.“ Zu ihrem Schreiben und der Komplexität der Debatte über Geschlechterverhältnisse gehört dann aber gerade, dass sie sich in ihren Beschreibungen vor allem an männlichen Autoren wie eben Sade, Miller und Roth orientiert haben – es beschreibt also vielleicht eher den Tod der Lust in einer falsch verstandenen Befreiung.

    Umso aufschlussreicher ist darum das Gegenbild, das die beiden in Bayern geborenen Autorinnen wählen. M. nämlich fährt zu Weihnachten nach Hause zu ihren Eltern nach Rain am Lech, auch die in Dillingen an der Donau lebende Schwester mit ihren Kindern ist da. Und mit Neukölln und Bayerisch-Schwaben scheinen zwei Kulturen, zwei Welten aufeinanderzutreffen, von denen die eine am fatalen Ende eines Modernisierungsschubs angekommen ist, der in der anderen noch gar nicht richtig begonnen hat. Aber nein, hier geht es eben auch nicht um eine noch rückständige und vermeintlich zu bewahrende und eine vielleicht fortschrittliche, aber verkommene Seite des Lebens. Denn den „normalen“ Weg ihrer Eltern „auf einer statisch einwandfreien Betonbrücke“ zu gehen, war für M. nie möglich – inzwischen hat sie immerhin auch gelernt, deshalb nicht auf sie herabzusehen. Sie stand beim Versuch, „denselben blöden Fluss zu überqueren“, von früher Jugend an auf „einer wackeligen, selbst gestrickten Hängebrücke“.

    So gesehen: ein humanistischer Porno. Es geht nicht um das Urteil über Lebensmodelle, sondern um Mitgefühl für den Einzelnen.

    Anna Gien und Marlene Stark: M. Matthes & Seitz, 248 S., 20 ¤

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