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Konzert: Zeig noch mal Zunge, Gene!

Konzert

Zeig noch mal Zunge, Gene!

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    Die hart gesottenen Rockfans konnte Kiss nicht mehr schocken. Es gab schon zuvor genügend bizarre Typen, die ihre Umwelt zum Staunen brachten. Da hüpften die New York Dolls in Travestie-artiger Kleidung und in hochhackigen Schuhen über die Bühne, Sweet zeigten ihre Glitzerklamotten und Plateausohlen, die höher als der Watzmann waren, Alice Cooper schockte seine Umwelt mit Galgen und Guillotine, und T.Rex mit ihrem Anführer Marc Bolan trug eine bunte Federboa. Da staunte nur der etwas konservative Vater auf der Wohnzimmercouch, wenn im Fernsehen der Beat-Club lief und er kopfschüttelnd sagte: „Was ist denn das für ein Dattelaffe?“

    Der Musikmarkt war schon schrill genug, als plötzlich Kiss im Jahr 1974 in Deutschland in den Plattenläden auftauchten. Dennoch, empfänglich war man schon für die vier Typen, die aussahen, als wären sie einem Marvel-Comic entsprungen. Paul Stanley, Gene Simmons, Ace Frehley und Peter Criss passten halt einfach so schön in die Landschaft. Und allen Respekt, dieser Gene Simmons hatte auch noch eine Zunge, die länger war als eine Luftschlange. Aber wenn auffallen alles gewesen wäre, dann hätten Kiss keinen Sommer musikalisch überlebt. Doch Kiss stand über den bisherigen Glamrockern wie T.Rex, Sweet oder auch Slade. Ihr Rock war etwas lauter als der Glamrock, mehr gitarrengeprägt und hymnischer. Jedenfalls vom Sound her waren Kiss damals die Vorläufer des 1980er-Rock. Nach den Beatles und den Stones heimsten die Amerikaner im Lauf der Zeit auch die meisten Goldenen Schallplatten (24) ein. Doch Kiss irritierten auch. Die beiden „SS“ im Namen glichen denen der „Waffen-SS“ der deutschen Nazis. Doch dass die New Yorker irgendetwas mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, das anzunehmen gab es keinen Grund. Paul Stanleys Mutter war zwar in Berlin geboren, aber sein Vater war aus Polen, beide flohen vor den Deutschen. Auch für den heute fast 70-jährigen Gene Simmons waren Nazis ein Gräuel. Simmons, der in Wirklichkeit Chaim Witz heißt, wurde wie seine Eltern in Israel geboren, sie gehörten zu den Überlebenden des Holocaust. Die beiden SS bei Kiss standen für Blitze und schlicht für donnernde Musik.

    Und jetzt, im Jahr 2019, stellt man sich die Frage: War’s das? Paul Stanley hat jedenfalls genug: „Bei allem Spaß, den wir hatten: Rock ’n’ Roll ruinierte meine Gesundheit, fragen Sie nur meinen Orthopäden. Soll ich aufzählen? Operationen an Schulter und Knie, eine schwere Stimmband-OP, neue Hüften, die ich dem Tanzen auf hohen Hacken zu verdanken habe“, sagte der Sänger und Gitarrist dem Spiegel in einem Interview. In München aber hatten sie jetzt definitiv noch einmal Spaß bei ihrer „End of the Road Tour“, die die Ära der Gruppe nach 46 Jahren beenden soll.

    Am Freitag Nachmittag zogen bereits etliche Fans mit Kiss-Masken und in Fantasykostümen durch die Landeshauptstadt und stimmten sich auf den Abschied und den Abend ein. Das Gelände am Königsplatz war mit weit über 20000 Besuchern proppenvoll, als Paul Stanley und Gene Simmons sowie ihre Mitstreiter Tommy Thayer und Eric Singer die Bühne stürmten. Vielleicht waren Kiss musikalisch nicht immer die Größten, doch in Sachen Spektakel wird es weltweit wenige Bands geben, die ihnen das Wasser reichen können. Das Make-up sitzt, als der schwarze Vorhang fällt. Pyrotechnik, soweit das Auge reicht. Da kommen aus Gitarren Feuersalven, da dröhnen Kanonenschläge, da fliegt Paul Stanley über die Fans hinweg zur Bühne der Soundtechniker, und Gene Simmons lässt wie immer in den 46 zurückliegenden Jahren die Zunge spielen und spuckt Feuer und Blut.

    Das Beste kommt vielleicht sogar gleich zum Anfang: „Detroit Rock City“ aus dem legendären „Destroyer“-Album, das Kiss 1976 zusammen mit Bob Ezrin, der auch mit Alice Cooper gearbeitet hat, produzierte. Es waren die Zeiten, als Kiss ganz oben am Rock-Olymp waren, nach „Destroyer“ mit den Alben „Rock and Roll over“ (1976), „Love Gun“ (1977), „Dynasty“ (1979) und „Unmasked“ (1981). „Detroit Rock City“ war am Königsplatz ein frühes Zeichen für die Fans: Und dann die Hände zum Himmel. Vielleicht wäre Stanley besser beraten gewesen, nicht so viel zwischen den Songs zu sprechen. Zumal seine Stimme klingt, wie wenn man einer Katze auf den Schwanz tritt. Stimmband-OP eben. Auch beim zweiten Titel „Shout it out loud“ greifen die vier Herrschaften auf ihr „Destroyer“-Album zurück. The Starchild, the Demon, the Spaceman und the Catman, wie sich die vier mit ihren Fantasynamen bezeichnen, hetzen von einem Kracher zum nächsten. „Deuce“, „Say Yeah“, „War Machine“ oder „Lick it Up“ – die Pyros sind noch lange nicht verschossen. Bei „I was made for lovin you“ sind endgültig über 20000 Headbanger im Einsatz. Ruhiger wird es erst, als Eric Singer die Ballade „Beth“ auf seinem Piano klimpert. Schließlich stilgerecht mit „Crazy crazy Nights“, „Rock and Roll at nite“ und einer nicht enden wollenden Konfetti-Kanonade verabschieden sich die Rock-Haudegen von der Bühne.

    Tatsächlich für immer? Vielleicht ist es der richtige Zeitpunkt, um der großen Bühne Adieu zu sagen. An der Show gab es in München nichts zu mäkeln, musikalisch aber gibt es mittlerweile schon einige Schwächen. Man merkt deutlich, dass es Paul Stanley immer schwerer fällt, den richtigen Ton zu treffen, und auch an Gene Simmons ging das Alter nicht spurlos vorüber. Schlagzeuger Eric Singer (61), der auch schon für Black Sabbath spielte, und Gitarrist Thommy Thayer (59) stehen zwar noch im Saft, sind aber ebenfalls bereits zu alt, um das Erbe von Kiss fortzusetzen. Das Ende ist also nah, und das ist gut so. Schließlich soll man ja aufhören, wenn es am schönsten ist. Und schön war’s schon noch einmal in München.

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