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Auszeichunng: Literaturnobelpreis für Annie Ernaux - eine "Ethnologin ihrer selbst"

Auszeichunng

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux - eine "Ethnologin ihrer selbst"

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    Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Die französische Schriftstellerin verlässt ihr Haus.
    Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Die französische Schriftstellerin verlässt ihr Haus. Foto: Ap / Michel Euler / Michel Euler

    Indem sie über sich selbst schreibt, erzählt Annie Ernaux von der Welt. Vom Schamgefühl einer Frau, der der soziale Aufstieg gelungen ist und die das einfache Milieu nicht vergessen hat, aus dem sie stammt. Vom Widerstand einer zutiefst engagierten Frauenrechtlerin in einer männlich dominierten Gesellschaft. Von ihrer eigenen heimlichen Abtreibung, so wie sie millionen Frauen durchlitten haben oder durchleiden.

    In ihrer Heimat Frankreich gehört Annie Ernaux seit langem zu den wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen, wird von der Leserschaft wie von der Literaturkritik verehrt. Nun erhielt die 82-Jährige mit dem Nobelpreis für Literatur die renommierteste Auszeichnung der Welt, nachdem sie seit Jahren zu den Favoriten gezählt hatte. Sie ist erst die 17. Frau seit 1901, die diese von der Schwedischen Akademie vergebene Ehrung erhält. Vor ihr kamen bereits 15 Preisträger aus Frankreich, zuletzt Patrick Modiano im Jahr 1914 und Jean-Marie Gustave Le Clézio 2008.

    In der Begründung würdigte die Akademie Ernaux "für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt". Sie befasse sich mit schwierigen Themen wie Scham, illegaler Abtreibung oder der Wahrnehmung von Konventionen. In ihrer Erinnerungsarbeit knüpfe sie an die Tradition Marcel Prousts an und führe diese zugleich in die heutige Zeit. Der französische Präsident Emmanuel Macron, den Ernaux oftmals scharf kritisiert hat, rühmte sie gestern als "Stimme der Freiheit der Frauen und der Vergessenen des Jahrhunderts".

    Schnörkellos, minimalistisch und distanziert ist Ernauxs Schreibstil

    So persönlich sie ihre eigenen Lebenserfahrungen wiedergibt, so schnörkellos und minimalistisch, ja distanziert ist ihr Schreibstil. Sie freue sich, sagte Ernaux einmal in einem Interview, etwas in der Literatur verändert zu haben, falls sie dazu beitragen konnte, "dass es nicht mehr diese Art bedingungslose Bewunderung für die Anmut, den schönen Satz, die Rhetorik gibt". Sie will nicht gefallen, nicht zum Spaß mit Worten spielen. Die Autorin von mehr als 20 literarischen Werken sieht sich in einer Tradition der engagierten Schriftsteller, die sich einmischen und ihre Stimme für oder gegen etwas erheben – in ihrem Fall gegen soziale Ungerechtigkeiten, Rassismus, das Patriarchat. Sie unterstützte die Widerstandsbewegung der "Gelbwesten", deren Protest sie als "Aufstand gegen die Verachtung der Mächtigen" bezeichnete, und gilt als Anhängerin des radikalen Linkspolitikers Jean-Luc Mélenchon.

    In einer ersten Reaktion gegenüber dem schwedischen Fernsehsender SVT sagte Ernaux, die im Vorort Cergy im Nordwesten von Paris lebt, die Auszeichnung sei für sie "eine sehr große Ehre". Zugleich sehe sie sich in der Verantwortung, "mit einer Art von Genauigkeit, von Gerechtigkeit gegenüber der Welt zu sprechen". Vom Prix Renaudot 1984 über den Preis der französischen Sprache 2008 und den Prix de l‘Académie de Berlin 2019 hat sie bereits etliche Auszeichnungen erhalten, vor allem für ihr Hauptwerk "Die Jahre" aus dem Jahr 2008, das auch im deutschsprachigen Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

    Man erfährt viel in Ernauxs Büchern aus ihrem Leben

    Sie selbst verortete ihre Arbeit einmal "zwischen Literatur, Soziologie und Geschichte", nannte sich eine "Ethnologin ihrer selbst". Sie sei nicht selbstzentriert, verteidigte sie sich: "Ich spreche von mir, weil es das Thema ist, das ich nun einmal am besten kenne." Sie interessiere sich "für das, was es an Sozialem in mir wie in jedem Menschen zu finden gibt".

    Wer Annie Ernauxs Bücher liest, erfährt denn auch viel über ihr persönliches Leben. Mehrmals beschrieb sie ihre Kindheit als Tochter von Besitzern eines Krämerladens mit Café im Dörfchen Yvetot in der Normandie, wo sie "alle Arten von Gesprächen und Sprachen" mitbekommen, soziale Hierarchien beobachten konnte. Ihre literarische Karriere begann sie 1974 mit dem Buch "Die leeren Schränke" über eine schmerzhafte Abtreibung, den Durchbruch feierte sie 1984 mit dem ebenfalls autobiografischen Roman "Der Platz", der von ihrem Vater und ihrem eigenen sozialen Aufstieg handelte.

    In "Eine vollkommene Leidenschaft: Die Geschichte einer erotischen Faszination" setzte sie sich mit einer heftigen Affäre mit einem verheirateten Mann auseinander, in ihrem jüngsten Werk "Le jeune homme" ("Der junge Mann") mit ihrer Beziehung zu einem 30 Jahre jüngeren Partner. Auch der Verlust einer älteren Schwester noch vor ihrer eigenen Geburt, der brutale Verlust der Jungfräulichkeit, ihre beruflichen Anfänge als Französischlehrerin, die zweifache Mutterschaft sowie die Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter und deren Tod – Annie Ernaux macht stets ihre persönlichsten Erfahrungen zum Thema, setzt sie dabei in einen größeren Kontext.

    Das Schreiben bezeichnete sie als Aufgabe, "die einen nicht ruhen lassen kann". Sie lebe mit ihren Büchern, um die sich alles drehe und sei keine Großmutter mit viel Zeit, gestand sie 2019 gegenüber der Zeitung Le Monde. Indem sie nun den bedeutendsten Preis für Literatur erhält, erfährt sie – einmal mehr – die Genugtuung, als Stimme und Vorkämpferin für die Sache der Frauen und der Minderheiten gehört und wahrgenommen zu werden.

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